Autos werden immer vernetzter, autonom und Teil des Internets, ihre Entwicklung daher ebenfalls. Um das Testen neuer Antriebssysteme und Technologien wie autonomes Fahren effizienter zu machen, bietet der Grazer Technologiekonzern AVL List den Herstellern eine Umgebung an, die reale und virtuelle Tests zu einer Einheit verbindet unter Einbeziehung von Daten aus dem realen Fahrzeugbetrieb.
IODP steht für „Integrated and Open Development Platform“ und bedeutet die Verschmelzung von realen und virtuellen Versuchen. „Rückblickend waren die Auslegung und die Entwicklung neuer Motoren und Antriebsstränge vergleichsweise einfach, die virtuelle Auslegung und die reale Absicherung auch weitestgehend getrennt“, erzählt Wolfgang Puntigam, Global Business Unit Manager bei AVL List. „Aus der jahrelangen Erfahrung wurden die einzelnen Systeme auch weitestgehend parallel entwickelt mit einem hohen Integrationsaufwand am Ende des Entwicklungsprozesses.“
Heute sei die Sache viel komplexer: „Es steht heute bei der Entwicklung der Systemgedanke schon von Beginn an im Vordergrund, denn es geht nicht nur um den Verbrennungsmotor, auch Batterien, der Antriebsstrang, die Elektrifizierung kommen mit ins Spiel und müssen im System integriert werden. Es gibt viele Kombinationen, vor allem bei Hybridfahrzeugen.“ Trotz stark gewachsener Entwicklungsaktivitäten – viele Antriebstechnologien müssen parallel entwickelt und zusätzlich neue Ansätze wie autonomes Fahren umgesetzt werden – haben die meisten Hersteller, so Puntigam, ihr entsprechendes Entwicklungsbudget nicht massiv erhöht. „In der Praxis heißt das, dass die Entwicklungsabteilungen mit denselben Ressourcen viel mehr machen müssen. Es kommt somit zu Verschiebungen von Entwicklungsbudgets hin zu neuen Themen“.
Genau hier kommt IODP ins Spiel. „Unser Fokus ist ganz klar, die Entwicklungseffizienz im Produktentstehungsprozess für die Kunden zu erhöhen.“ Das sei zu schaffen, indem man viel stärker als bisher auf Digitalisierung setze und in die Simulation gehe, sagt Puntigam. „Im Automobilbereich wird Entwicklung schon heute sehr häufig virtuell gemacht und dieser Anteil steigt und steigt.“ Bei den Tests sehe das Ganze jedoch anders aus – noch. Es bestehen derzeit massive Bestrebungen zu einer Erhöhung der Virtualisierung von realen Tests hin zur vollständigen Abbildung in der virtuellen Welt.
„Man muss nicht alle Komponenten eines Antriebsstranges real mit dem Motor verbinden, um ihn umfassend zu prüfen“, schildert Puntigam. „Man kann zum Beispiel auch einen echten Motor auf den Prüfstand stellen und dann verschiedene Batteriemodelle, E-Motoren-Modelle, Fahrzeugmodelle simulieren, um sein Verhalten zu testen.“ Genauso könne man die Umgebung mit unterschiedlichen Umgebungstemperaturen oder Verkehrsszenarien simulieren oder verschiedene Fahrzeugtypen, in denen der Motor später zum Einsatz kommen soll.
„AVL zeigt den Weg der Transformation auf – vom realen Test hin zur Simulation“, schildert Puntigam das Ziel. „Zu Ende gedacht würde das bedeuten, dass man auf einem virtuellen Prüfstand reine Simulationen fährt. Der Weg führt irgendwann dorthin unter Beimischung von realen Tests.“
Das Herzstück von IODP ist deshalb auch eine sogenannte Connect-Software. „Sie verbindet die einzelnen Fahrzeugkomponenten in der Simulation mit der Realität. Und das System ist nicht exklusiv auf von AVL entwickelte Lösungen beschränkt. „Open heißt in diesem Zusammenhang, dass nicht alles von uns kommen muss. Wir machen eine Ist-Analyse, picken die Entwicklungsaufgaben heraus und virtualisieren sie gemeinsam mit unseren Kunden.“
Generell sieht der Global Business Unit Manager einen Paradigmenwechsel in der Automobilentwicklung. „Die Branche und wir als AVL lernen da gerade, wie der Entwicklungsprozess der Zukunft aussehen wird. Einige Eckpunkte dafür sind aber ganz klar. Die Verwendung von Daten von bereits im Betrieb befindlichen Fahrzeugen wird einer der Eckpfeiler moderner Fahrzeugentwicklung werden, um darauf Neu- und Weiterentwicklungen aufzusetzen. Auch wir versuchen verstärkt, Daten aus der Praxis in die Entwicklung zurückzubringen.“ Wenn man wisse, wie sich Fahrzeuge im Alltag verhalten, könne man eine entsprechende Software programmieren, um neue Entwicklungen in der digitalen Welt vorab zu erproben. „Der Alltag muss zur Entwicklungsumgebung werden.“
Die Gewinnung der nötigen Praxisdaten sei derzeit aber noch eine rechtliche Grauzone, räumt Puntigam ein. „Da gibt es noch viele Dinge zu klären – von Cybersecurity über Datenschutz bis hin zur Datensicherheit. Das alles ist ganz besonders in Europa ein heikles Thema.“ IODP kann nicht nur in der reinen Entwicklung angewandt werden, sondern bietet auch bei Updates von Fahrzeugen viele Vorteile. „Stellen Sie sich vor, ein Hersteller möchte eine neue Funktion in bereits verkauften Fahrzeugen zur Verfügung stellen. Zum Beispiel ein System, das erkennt, ob eine Ampel rot ist und das Fahrzeug dann automatisch abbremst. In diesem Fall könnte die Ampelerkennung erst einmal in einen Shadow-Modus geschalten werden, also nur Daten aufzeichnen, aber nicht wirklich in den Fahrablauf eingreifen. Diese Daten könnten dann zur Verbesserung des Systems benutzt werden. Das Programm lernt und wenn es genug beobachtet hat, wird es endgültig freigeschaltet. Ab diesem Zeitpunkt bremst es bei Rot von selbst.“ AVL würde in diesem Szenario seine Kunden dabei unterstützen, solche neuen Funktionen frühzeitig technisch abzusichern.
Grundsätzlich, so Puntigam, seien Kunden, die auf der grünen Wiese starten, beim Einsatz von Simulationen leicht im Vorteil bzw. verfolgen vom Start weg einen softwareorientierten Entwicklungsansatz. Die Automobilbranche befindet sich derzeit massiv im Wandel. Einerseits die bestehenden Themen weiterzuführen und parallel hin zu einer stärker softwareorientierten, virtuellen Entwicklung. AVL unterstützt hierbei auch ihre Kunden durch eine kontinuierliche Begleitung in der Entwicklung.
Deshalb sei die Message von AVL auch nicht:„Wir machen in Zukunft alles mit Simulationen“. Es werde weiterhin praktische Versuche geben, ist der IODP-Spezialist überzeugt. „Es braucht immer die Realität.“ Was aber jetzt schon denkbar sei, ist die Integration von bestimmten Komponenten, die fast ausschließlich in Simulationen getestet worden sind, in Fahrzeuge.
Weltweit sind bei AVL rund 350 Mitarbeiter im Bereich IODP tätig. Obwohl die Situation in der Automobilbranche nicht zuletzt wegen der Corona-Pandemie herausfordernd sei, habe man in seinem Bereich ein starkes Wachstum. „Das liegt auch am Druck, dem die OEM ausgesetzt sind. Entwicklung wird immer komplexer, aber die Budgets dafür bleiben, wie schon gesagt, plus/minus gleich.“ Dass die Zahl der Varianten bei den Fahrzeugen zum Teil heruntergefahren worden sei, bringe nicht genug Entlastung, deshalb biete sich der Weg in vermehrte Simulation als Lösung an.
Trotz Covid-19 sieht Puntigam übrigens nach wie vor einen Techniker- und Technikerinnenmangel. Selbst gelernter Maschinenbauer mit dem Spezialgebiet Thermodynamik weiß er, dass Systeme wie IODP fundierte Kenntnisse sowohl im Automobilbau als auch in der Softwareentwicklung benötigen. „Es gibt leider nur sehr wenige Techniker- und Technikerinnen, die alle diese Welten kennen“, bedauert er.
Insgesamt wandelt sich auch AVL List, ist Puntigam überzeugt. „Unser Unternehmen transformiert sich permanent. Ursprünglich von einem Verbrennungsmotor-Spezialist über Antriebsstrangsysteme hinein in Fahrzeug und autonomes Fahren werden wir immer mehr zu einer auch softwareorientierten Firma.“ Jedenfalls sei es eine spannende Zeit, um in der Autoentwicklung zu arbeiten. „Wir machen heute Dinge, die vor 10 Jahren noch nicht einmal vorstellbar waren.“
Kontakt
AVL List GmbH
Hans-List-Platz 1, 8020 Graz
www.avl.com
Foto: WOLFGANG PUNTIGAM, Global Business Unit Manager Integrated and Open Development Platform
Fotocredit: Doris Sporer
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