Damit war das Ding dann tot

Die einladende Lounge im Gastgarten des Restaurants Eckstein bot den entspanntanimierenden Rahmen für den bereits traditionellen
Graz-Talk des Eckstein-Magazins. Friedrich Kleinhapl, international erfolgreicher Cellist, Michael Wachsler-Markowitsch, langjähriger  Finanzvorstand (CFO) des in Premstätten bei Graz ansässigen, global agierenden Halbleiter- und Sensorspezialisten ams AG, und Gastgeber Michael Schunko trafen sich zu einem Gespräch über die Murmetropole, das die Stadtgrenzen bald hinter sich ließ und sich die Langsamkeit Europas zum Thema machte.

Mit welcher Schulnote würden Sie Graz beurteilen?

Michael Wachsler-Markowitsch: Aus österreichischer Sicht würde ich Graz eine klare Eins geben. Im Vergleich zu anderen Städten und Regionen in Österreich ist Graz tipptopp. Im internationalen Vergleich: eine Vier; mit Tendenz zur Verbesserung.

Warum dieser Unterschied?

Wachsler-Markowitsch: Der Unterschied betrifft nicht nur Graz, sondern ganz Österreich. Österreich ist vor vielen, vielen Jahren steckengeblieben. Es richtet seinen Blick nicht nach außen, ist auf sich selbst bezogen. Nur ein Beispiel: Mir sind Aussagen von gut situierten Eltern bekannt: „Aber geh, meine Kinder müssen eh nicht Englisch lernen, die werden sowieso Anwälte.“

Friedrich Kleinhapl: Das ist aber nicht die Regel, würde ich meinen.

Wachsler-Markowitsch: Ich behaupte nicht, dass es die Regel ist. Aber dass so etwas heute überhaupt noch vorkommt, sagt schon einiges. Auch unsere Vorbehalte gegenüber Fremden sind legendär. Das soll kein Pauschalurteil sein, aber es ist eine Tendenz, die nach wie vor nicht wegzuleugnen ist.

Michael Schunko: Wir neigen dazu, das, was wir bereits erreicht haben – und damit uns selbst –, zu überschätzen. Und uns dann gleich wieder
in Selbstzufriedenheit zurückzulehnen. Aber speziell zu Graz: Graz hat in den letzten 20, 25 Jahren eine tolle Entwicklung durchgemacht, aber eine
Entwicklung von quasi null auf das Doppelte ist in absoluten Werten nicht unbedingt sehr viel. Das muss man auch einmal sehen. Und ich behaupte, dass noch sehr viel Luft nach oben ist. Daran sollte gearbeitet werden. Und man sollte auch ambitionierte Ziele formulieren und alles daransetzen, sie zu verwirklichen. Ich vermisse in dieser Stadt nach wie vor die Visionen. Es ist ja im Rest von Österreich auch nicht anders: eine gewisse Kleinkariertheit, es bewegt sich nicht viel. Es ist alles lieb und schön. Und gerne wird gejammert, dass niemand etwas tut. Aber wenn einer etwas verändern will, dann passt es den Leuten auch nicht.

Wachsler-Markowitsch: Das kommt ja nicht von ungefähr. Ich glaube, dass es gesellschaftlich einfach nicht erwünscht ist. Schauen wir uns z. B. die
ewigen Diskussionen um Gastgartensperrstunden oder Ladenöffnungszeiten an. Die Menschen in Österreich sind dagegen, dass die Geschäfte 24
Stunden lang offen haben.

Kleinhapl: Was mir in Graz am meisten auffällt, ist das mangelnde Selbstbewusstsein. Aus meiner Sicht liegt dort das Hauptübel für eine Stadt, die, wie ich glaube, sehr viel Potenzial hat. Man hat es allerdings nie verstanden, sich mit einem Schwerpunkt zu branden und diesen dann auch durchzuziehen. Ich will Innsbruck nicht als Vorbild hinstellen: Womit hat sich Innsbruck gebrandet außer mir dem Goldenen Dachl? Trotzdem ist die Stadt randvoll.

Wachsler-Markowitsch: Unterhalten Sie sich mit Asiaten oder Amerikanern: Die kommen nicht nach Österreich, um Geschäfte zu machen, sondern um die Alte Welt zu sehen: das Goldene Dachl oder Schloss Schönbrunn. Österreich hat den Ruf, ein bisschen verstaubt zu sein, aber lieb verstaubt. Es wird hier schon versucht, etwas zu bewegen. Aber halt in österreichischer Manier – ein bissl langsam. Die Gesellschaft will keine rasche Veränderung und sie will sich auch nicht wirklich mit der Zukunft auseinandersetzen. Aber damit werden wir auf lange Sicht ins Hintertreffen geraten.

Kleinhapl: Wir arbeiten seit sechs Jahren an einem völlig neuartigen, spektakulären Festivalprojekt. Wir versuchen es in den USA und in Asien, denn in Europa ist nichts zu machen. Ganz Europa ist ängstlich und innovationsfeindlich. Wir haben überall dasselbe gehört: „Wenn ich mich als Manager auf etwas Neues einlasse und einen Fehler mache oder ein Problem auftaucht, dann bin ich weg. Mache ich das, was alle machen, dann kann mir nichts passieren.“ Das ist kennzeichnend für Europa. Es war wirklich ein Schock. Wir haben jahrelang daran geglaubt, dass sich unser Projekt hier in Europa verwirklichen lässt.

Wachsler-Markowitsch: Es ist eine europäische Krankheit, ein Spiegel der Gesellschaft. Und deswegen verlassen die klugen Köpfe Europa auch in Scharen.

Schunko: Ich frage mich im Hinblick auf die Zukunft dieser Stadt auch immer wieder: Was würde noch mehr kreative und gut ausgebildete Menschen nach Graz und in die Steiermark bringen, um hier zu arbeiten und mit ihren Familien zu leben? Aber die Hürden beginnen schon damit, dass unsere Gesellschaft nicht wirklich zu den offensten gehört.

Kleinhapl: Graz hätte ein extrem gutes Potenzial, was die Voraussetzungen und Lebensbedingungen betrifft. Graz sollte sich seiner Stärken
besinnen und sie selbstbewusst weiterentwickeln. Das Grazer Institut für Weltraumforschung hat heute schon Weltgeltung, um nur ein Beispiel zu nennen. Graz war ja auch schon Literaturhauptstadt, Architekturhauptstadt und einiges mehr. Leider ist das alles im Sand verlaufen. Und schließlich wird man auch immer wieder von scheinbar ganz banalen physische Hindernisse eingeholt: Wenn man aus der Stadt nicht wegkommt, weil es einfach keine relevanten und verlässlichen Flugverbindungen gibt, dann ist das eine Tragödie. Das war einer der Gründe, weshalb ich von Graz weggegangen bin.

Schunko: Ein wichtiges Thema. Aber ich stelle noch etwas zur Diskussion: Ist der gelernte Österreicher von der Grundmentalität her nicht einer,
der es tendenziell nicht so schätzt, wenn jemand von außen kommt und ihm – wenn auch vielleicht nur gefühlt – seine Position und seine Besitzstände streitig zu machen droht? Kann es sein, dass unsere Gesellschaft so denkt? Ich bin neulich über eine Untersuchung gestolpert, die Österreich als Land mit relativ großen Vorbehalten gegenüber Zuziehenden ausweist. Das scheint ein Faktum zu sein. Auch wenn es um qualifizierte Fachkräfte oder Spezialisten geht, wie sie bei uns ja angeblich händeringend gesucht werden.

Wachsler-Markowitsch: Bei uns am Standort arbeiten Menschen aus 33 Nationen. Wissen Sie, wie schwer es ist und wie lange es dauert …

Kleinhapl: … bis man überhaupt arbeiten darf. Das begreife ich nicht. Das ist genau der Punkt.

Wachsler-Markowitsch: Ein bürokratischer Aufwand ohne Ende. Wir lernen gerade ungefähr 50 Ingenieure aus Singapur an. Es ist ein Drama, diese Leute hierherzubringen und eine temporäre Arbeitsgenehmigung für die Zeit der Einschulung zu bekommen. Aber wir können Österreich mit seinen Problemen nicht isoliert von Europa betrachten, ich glaube, da sind wir uns einig. Bürokratische Behinderung bzw. Laden- oder Gastgartenöffnungszeiten sind auch in den meisten anderen europäischen Staaten Baustellen. Wenn wir uns wirklich benchmarken wollen, dann müssen wir das heute mit Asien machen. Dort spielt es sich ab, dort geht die Post ab.

Kleinhapl: Da bin ich völlig bei Ihnen. Da sind wir Lichtjahre hinterher.

Wachsler-Markowitsch: Ein Beispiel: Wir hatten zu Beginn dieses Jahres in Singapur 800 Mitarbeiter. Heute sind es mehr als 6.000. Es gibt eine Regelung, die vorschreibt, dass 60 Prozent der Mitarbeiter Staatsangehörige Singapurs sein müssen. So viele zu finden, wäre in dieser kurzen Zeit unmöglich gewesen, also mussten wir eine – temporäre Ausnahmegenehmigung beantragen. Vier Tage später bekamen wir vom Arbeitsministerium einen Bescheid ausgestellt, sonntags um 16 Uhr. Muss man mehr sagen?

Schunko: Nein, das sagt eh schon alles. Das schaffen wir nie. Trotzdem müssen wir weiterdenken. Unsere Stadt ist nicht wirklich sexy, noch nicht. In Berlin hat man z. B. nach der Öffnung gesagt: „Wir lassen in den neuen Räumen vieles zu. Wir schauen nicht so sehr aufs Geld, sondern sorgen dafür, dass sich etwas entwickelt.“ Und man braucht sich nur anzusehen, wie sich diese Stadt entwickelt hat. Natürlich kann man Graz nicht 1:1 mit Berlin vergleichen. Aber man kann sich ja trotzdem etwas abschauen. Es gibt auch bei uns noch viel Luft nach oben. Wir sind lieb und schön und es ist angenehm, hier zu leben, aber wir sind nicht wirklich sexy. Wir bemühen uns, aber wir haben einen Zentnerstein umgehängt und bekommen ein bestimmtes Tempo vorgeschrieben, das wir ja nicht überschreiten dürfen.

Kleinhapl: Was Graz meiner Meinung nach sexy machen würde: Wenn Kräfte gebündelt würden, statt sich ständig gegenseitig zu blockieren. Das ist eine Krankheit. Ich habe es damals im Kulturhauptstadtjahr erlebt: Ich war 2003 auch nicht beschäftigt. Ich habe es bloß toll gefunden. Aber unter den Künstlern haben auch viele gesagt: „Wann ist dieses blöde Jahr endlich vorbei, ich habe nichts davon und alle Mittel werden von mir abgezogen.“ Keiner ist auf die Idee gekommen zu sagen: „Es entsteht hier ein Brennpunkt und der treibt uns alle nach oben.“ Dieses Denken fehlt Graz völlig. Jedenfalls habe ich es nicht erlebt. Warum erkennen wir Potenziale nicht, bündeln sie und sagen dann: „Toll, dass es so etwas gibt und dass wir alle davon profitieren können, wenn es funktioniert.“ In der Praxis ist es oft genau umgekehrt: „Wenn es dir gut geht, muss ich dafür sorgen, dass es dir schlechter geht, denn es darf dir nicht besser gehen als mir.“

Schunko: Ich glaube, dass es doch große Unterschiede zwischen Österreich und anderen Staaten gibt. Man braucht nur deutsche Politikdiskussionen mit österreichischen vergleichen. Sprache, Argumentation, Sachgehalt – das läuft in Deutschland tatsächlich auf einer anderen Ebene: klar und emotionslos. Da geht es um Fakten. Bei uns spielt sich alles auf der emotionalen Ebene ab.

Wachsler-Markowitsch: Großes Kino. Kabarett.

Kleinhapl: Aber wahrscheinlich ist es überall auf der Welt so. Uns fällt es eben hier besonders auf, weil wir hier leben. Aber wenn ich mir diese
Hickhack-Diskussionen anhöre, ganz egal, worum es geht: dieses zwanghafte Kreieren von Gegensätzen. „Wir müssen anders sein, wir dürfen nicht an einem Strang ziehen.“

Schunko: Vielleicht sind wir in gewisser Hinsicht zu emotional und zu wenig sachlich, um wirklich etwas zu bewegen. Ich denke mir immer wieder,
dass wir uns eigentlich oft selbst im Weg stehen – und uns gegenseitig blockieren.

Kleinhapl: Wir verlieren häufig die großen Ziele aus den Augen – wegen irgendwelcher Hakeleien oder vermeintlicher Interessenkonflikt, die oft genug völlig schwachsinnig sind.

Wachsler-Markowitsch: Ich will hier noch einmal den Singapurverglich bemühen. Singapur hat – haltet euch fest – einen Planungshorizont von 50
Jahren. Könnt ihr euch so etwas hier in Österreich vorstellen? Wo jeder Politiker gerade einmal bis zur nächsten Wahl denkt.

Man muss aber auch festhalten, dass diese asiatische Demokratie ein autoritäres Element in sich trägt.

Kleinhapl: Umgekehrt ist diese Nicht-Planung über den Horizont der nächsten Wahl hinaus auch ein Schwachpunkt unserer Demokratie. Wir haben ja in Europa keine Perspektive, die über zwei, drei oder vier Jahre hinausgeht. Und dann dümpeln wir von einer Woche zur nächsten dahin. Dabei gäbe es schon Beispiele, bei denen man sich etwas abschauen könnte. Nicht nur Singapur oder Asien, auch Skandinavien z. B. Aber das wollen wir anscheinend nicht.

Wachsler-Markowitsch: Was Unternehmen heute ganz selbstverständlich machen, nämlich Benchmarking bei den Mitbewerbern – was macht der
andere besser? –, das machen Städte und Länder anscheinend kaum oder gar nicht. Warum nicht?

Kleinhapl: Ich glaube, sehr oft aus Trägheit.

Schunko: Ich habe nun als Mitglied zum Gemeinderat doch einige Einblick bekommen. Die Politiker an der Spitze, die arbeiten richtig hart. Sie werden mit Dingen konfrontiert, bei denen sich ein normaler Bürger möglicherweise fragt: „Würde ich mir das antun, um ein paar Wählerstimmen zu bekommen.“ Die Politiker an der Spitze müssen es tun. Das System ist so komplex, dass es kaum möglich ist, sich aus dieser Umklammerung zu befreien.

Kleinhapl: Ein letztes Beispiel, es passt dazu: Wir wollten mit einer Musikproduktion in den Konzertsaal einer Uni gehen. Dort hielt man uns einen
Mietvertrag entgegen, der sich über 50 Seiten erstreckte. Ich habe das hinterfragt: Mir wurde gesagt, sie hätten es von einer anderen Uni abgeschrieben, damit nichts schiefgehen könne. O.k., wenn es so läuft. Damit war das Ding dann tot.

Foto: René Strasser

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