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Wider den Strom

Die Lust am Erfor­schen, Ent­de­cken und Erfin­den ist so alt wie die Mensch­heit selbst und in unserer DNA ver­an­kert. Die Aus­sicht auf Ruhm und Ehre trieb Men­schen schon immer zu Grenz­über­schrei­tun­gen, der Kult der Krea­ti­vi­tät ist prä­sen­ter denn je. Frei­lich: Das eine oder andere Mal geht auch etwas schief.

Wage­mu­ti­ge sorgen stets dafür, dass den Geschichts­schrei­bern der Stoff nicht ausgeht. Schließ­lich gilt: Über den Tel­ler­rand zu blicken, kann den Lauf der Welt ver­än­dern. Die größte Ent­de­ckung der Welt ist zugleich der berühm­tes­te Irrtum aller Zeiten. Auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien ent­deck­te Chris­toph Kolum­bus 1492 Amerika. Jahr­hun­der­te später vermaß Alex­an­der von Hum­boldt, der gewis­ser­ma­ßen als Rock­star der Wis­sen­schaft gelten kann, Teile des Kon­ti­nents. Allein in den Regen­wäl­dern Süd­ame­ri­kas sam­mel­te der For­schungs­rei­sen­de riesige Mengen an Proben, fer­tig­te 60.000 Zeich­nun­gen an und absol­vier­te Tau­sen­de Expe­di­ti­ons­ki­lo­me­ter. 30 Jahre lang war er mit der Auf­ar­bei­tung seiner Daten – bio­lo­gi­sche, geo­gra­fi­sche, bota­ni­sche, astro­no­mi­sche, geo­lo­gi­sche – beschäf­tigt und schrieb das Meis­ter­werk „Kosmos“, das von 1845 bis 1862 in fünf Bänden erschien.

Die höchst inten­si­ve, ja teils fast beses­se­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit der Materie ist dem For­schungs­pro­zess oftmals wesens­im­ma­nent. Wenn es um seine Tur­bi­nen ging, habe der stei­ri­sche Inge­nieur Viktor Kaplan, der Anfang des 20. Jahr­hun­derts lange Zeit an der Deut­schen Tech­ni­schen Hoch­schu­le Brünn tätig war, alles andere ver­ges­sen, heißt es. Man erzählt sich, dass der Erfin­der der Kaplan-Turbine vor einem Fest­vor­trag im Frack noch schnell zu einer Ver­suchs­tur­bi­ne ins Labor geeilt sei und begon­nen habe, diese zu regu­lie­ren – dar­auf­hin habe man ihn trie­fend nass in den Fest­saal geholt.

Radikal ver­än­dert

Frei­lich, nicht alle Ent­de­ckun­gen ent­ste­hen rein aus indi­vi­du­el­lem Antrieb, sie sind teil­wei­se auch in rigide Befehls­hier­ar­chien und den Wunsch nach poli­ti­scher Vor­macht­stel­lung ein­ge­bet­tet; viele Ent­de­ckungs­rei­sen waren eher dem Erobe­rungs- und Selbst­be­die­nungs­ge­dan­ken geschul­det als dem vor­ur­teils­lo­sen Wis­sens­er­werb. Die Band­brei­te dessen, was der Mensch in den Jahr­hun­der­ten an Neuem erkun­det und her­vor­ge­bracht hat, ist jedoch enorm und reicht von genia­len All­tags­er­fin­dun­gen bis hin zu Ergeb­nis­sen hoch­kom­ple­xer For­schung. Und sein Ent­de­ckungs­wil­le lässt ihn stets nach mehr streben – er will unter größten Anstren­gun­gen auf den höchs­ten Gipfel, selbst wenn die Aus­sicht auch anders­wo schön ist.

Manch­mal bleibt der Ruhm zu Leb­zei­ten auch ver­wehrt: Der Lehrer Johann Philipp Reis erfand 1859 das Telefon. „Das Pferd frisst keinen Gur­ken­sa­lat“ lautete der erste Satz, der über 100 Meter tele­fo­nisch über­mit­telt wurde. Aller­dings war vorerst nur Reis von seiner großen Erfin­dung über­zeugt. Jahre nach seinem Tod meldete der Ame­ri­ka­ner Graham Bell einen wei­ter­ent­wi­ckel­ten Apparat 1875 zum Patent an. Nun denn: Der Sie­ges­zug des Tele­fons hat das mensch­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hal­ten radikal ver­än­dert. Der Schwei­zer Johann Ludwig Bur­ck­hardt, der im Auftrag der bri­ti­schen African Asso­cia­ti­on als einer der ersten Euro­pä­er syri­sche und jor­da­ni­sche Gebiete bereis­te, gilt als Wie­der­ent­de­cker der antiken Fel­sen­stadt Petra. Seine Ent­de­ckung machte er 1812 aller­dings under­co­ver als Scheich Ibrahim ibn Abdal­lah, um auf seinen Reisen uner­kannt zu bleiben. Erst nach seinem Tod wurde sein Name in Zusam­men­hang mit der Ent­de­ckung dieser sagen­um­wo­be­nen Stätte bekannt.

Manche Erfin­dun­gen pro­vo­zie­ren auch nicht ganz so erwünsch­te Reak­tio­nen: Der Erfin­der des falt­ba­ren Bei­pack­zet­tels soll keines natür­li­chen Todes gestor­ben sein, der Erfin­der des Sofas habe danach nie wieder etwas Neues erdacht, der Erfin­der der Auto­kor­rek­tur soll in der Hallo schmo­ren, wird gerne gescherzt.

Evo­lu­tio­nä­res Pro­gramm

Dennoch gilt: For­scher­geist und Ent­de­ckungs­wil­le sind gewis­ser­ma­ßen in unserer DNA fest­ge­schrie­ben. Von Beginn seines Lebens an will der Mensch mit allen Sinnen die Welt erkun­den, ent­de­cken, erfah­ren. „Dieses Bedürf­nis nach Explo­ra­ti­on, unser Neu­gier­ver­hal­ten, ist tief in uns ver­an­kert“, sagt die Kli­ni­sche Psy­cho­lo­gin Eli­sa­beth Glau­nin­ger, „evo­lu­tio­när betrach­tet stellt es das Fort­be­stehen unserer Art sicher, da nur durch die fort­wäh­ren­de Aus­ein­an­der­set­zung mit der Umwelt eine opti­ma­le Anpas­sung an sich ver­än­dern­de Umge­bungs­be­din­gun­gen und damit Über­le­ben ermög­licht wird.“ Aus der Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gie weiß man, dass die unge­stör­te Ver­ar­bei­tung von unter­schied­li­chen Reiz­ein­drü­cken auch die Vor­aus­set­zung für die Ent­wick­lung höherer Funk­tio­nen wie Sprache, kogni­ti­ve Leis­tung, aber auch von Ver­hal­tens­mus­tern und emo­tio­na­ler Sta­bi­li­tät bildet. So kann auch die Lust am Ent­de­cken bereits in jungen Jahren gut geför­dert werden, „indem man durch Anreize in der Umge­bung opti­ma­le Bedin­gun­gen und die Grund­la­ge für die spätere Lern- und Leis­tungs­mo­ti­va­ti­on schafft“, betont Glau­nin­ger.

Der Mensch ist keine Insel. Er ist ein sozia­les Wesen. Und daher gilt: „Moti­va­ti­on ist immer auch auf andere aus­ge­rich­tet“, sagt Sozio­lo­gin Katha­ri­na Scherke. Darin liegt gewis­ser­ma­ßen ein Paradox begrün­det: Man will sich von anderen unter­schei­den, zugleich aber auch Bestä­ti­gung dafür. Das Streben nach Ein­zig­ar­tig­keit auf der einen Seite macht Aner­ken­nung aus dem sozia­len Kreis auf der anderen Seite möglich. Das wie­der­um trägt zum eigenen Status bei. So richtig Fahrt auf­ge­nom­men hat dieses Phä­no­men erst mit der Auf­klä­rung, so Scherke, als der Mensch zum Maß der Dinge wurde. Mit Pierre Bour­dieu gespro­chen: Soziale Distink­ti­on als der Wille zur Abgren­zung rückt das Selbst­bild, den eigenen Lebens­stil, die per­sön­li­chen Vor­stel­lun­gen in den Vor­der­grund. „Die zuneh­men­de Indi­vi­dua­li­sie­rung und die Suche nach Authen­ti­zi­tät sind eine starke Trieb­kraft auf der Suche nach Neuem“, kon­sta­tiert die Wis­sen­schaf­te­rin.

Auch Sozio­lo­ge Georg Simmel, der sich als einer der ersten wis­sen­schaft­lich mit Mode­er­schei­nun­gen aus­ein­an­der­ge­setzt hat, the­ma­ti­siert den Dua­lis­mus zwi­schen Nach­ah­mung und Abgren­zung, Indi­vi­du­um und Kol­lek­tiv. „Die Dynamik auf der Suche nach noch nicht Dage­we­se­nem wird nicht zuletzt dadurch geför­dert, dass das Neue irgend­wann nicht mehr neu ist und das Streben danach wieder beginnt.“ Die Moderne hat eine immensen Motor dafür geschaf­fen: Immer schnel­ler muss dieser Prozess vor sich gehen. Um zu explo­rie­ren, brauche es natür­lich Frei­raum und öko­no­mi­sche Mög­lich­kei­ten. Bestehen diese nicht, sei der Rahmen weit hem­men­der.

„Gerade heute exis­tiert ein regel­rech­ter Kult der Krea­ti­vi­tät, ein Drang, sich ständig neu zu erfin­den. Man ist zum Unter­neh­mer seiner selbst gewor­den. Das kann natür­lich auch Zwänge erzeu­gen“, sagt Scherke. Gleich­zei­tig wandelt man stets auf der Schwel­le zum Außen­sei­ter­tum: Der Grat, was noch Aner­ken­nung und Wert­schät­zung erfährt und was nicht, kann schmal sein.

Jede Menge Zweif­ler

Ob Robert E. Peary tat­säch­lich am 6. April 1909 als erster Mensch den Nordpol erreicht hat, ist nach wie vor umstrit­ten. Die jubeln­den Worte über den Triumph sind als einzige nicht im Expe­di­ti­ons­ta­ge­buch ver­merkt, sondern auf sepa­ra­ten Blät­tern ver­fasst. Das schürt die Annahme eines nach­träg­li­chen Ver­fas­sens. Die foto­gra­fi­schen Doku­men­te lassen keine ein­deu­ti­ge geo­gra­fi­sche Bestim­mung zu, obwohl Peary die Kennt­nis­se dafür gehabt hätte. Die Bewäl­ti­gung derart umfas­sen­der letzter Tages­etap­pen nährt eben­falls Zweifel. Dass ein Vor­ha­ben aller­dings auch wider alle Zweif­ler gelin­gen kann, hat Mary King­s­ley bewie­sen: Unge­ach­tet aller Beden­ken und war­nen­der Wort­mel­dun­gen war die Eth­no­lo­gin 1893 von England aus im Allein­gang zu einer Expe­di­ti­on in den uner­forsch­ten Westen Afrikas auf­ge­bro­chen. „Jede Chance auf einen siche­ren Tod muss man auf das Niveau einer sport­li­chen Her­aus­for­de­rung redu­zie­ren“, wird sie zitiert. Als Pio­nie­rin der moder­nen Anthro­po­lo­gie ist sie in die Annalen ein­ge­gan­gen. Mut kann man eben nicht kaufen.

 

Illus­tra­ti­on: Gernot Reiter

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