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Weck den Captain Kirk in dir!

Weiter wie bisher? Keine so gute Idee. Angst vor dem Neuen? Kann man sich auch sparen. Die Zukunft lebt vom Neuen. Ein Plä­doy­er für mehr Mut und Ent­de­cker­geist.

Sechs Worte nur. Nicht einmal ein fer­ti­ger Satz. Aber der Beginn einer welt­wei­ten Kunst­ak­ti­on. 2011 schrieb Candy Chang auf die Außen­mau­er eines schmuck­lo­sen Eck­hau­ses in New Orleans achtzig Mal die als Auf­for­de­rung zur Inter­ak­ti­on gedach­te Phrase „Before I die i want to …“ („Bevor ich sterbe, will ich …“) – und ließ dahin­ter eine Lücke. Dazu fixier­te sie eine Box mit Krei­de­stü­cken an der Wand.

Am nächs­ten Tag waren alle Lücken gefüllt. Pas­san­ten hatten ihre per­sön­li­chen Pläne für den Rest des Lebens an der Wand ver­ewigt. Ein Mani­fest der großen Träume: „Bevor ich sterbe, will ich Pilot werden“, „… völlig ich selbst sein“, „… sieben Kinder haben“, „… mit meiner Schwes­ter auf einem Berg­gip­fel stehen“, „… eine eigene Eis­fa­brik gründen“, „… Trom­pe­te lernen“.

Das lokale Projekt wurde ein poly­glot­tes Phä­no­men. In über 75 Ländern, an rund 400 Orten und in 30 Spra­chen rund um den Globus wurde die Aktion kopiert. An Haus­mau­ern und Pla­kat­flä­chen, auf mobilen Tafeln und Lein­wän­den, kleinen und großen Bret­ter­ver­schlä­gen und Bau­stel­len­zäu­nen fanden sich ver­schrift­lich­te Gedan­ken von Besu­chern. „Bevor ich sterbe, will ich auf­hö­ren, Angst zu haben“, stand in Jeru­sa­lem. „… will ich meinen Eltern danken“, las man in New York, „… einen Oscar gewin­nen“ in Johan­nes­burg, „… die Welt ändern“ in Kasach­stan. In seiner Gesamt­heit ein viel­fäl­ti­ges Pot­pour­ri an Wün­schen mit einer gemein­sa­men Stoß­rich­tung: Es sind Auf­for­de­run­gen an sich selbst, seinen Ent­de­cker­geist auf­zu­we­cken. Neues zu ver­su­chen. (Viel zu lange) Geplan­tes und Gewünsch­tes endlich anzu­ge­hen, statt vor­sichts­hal­ber gleich einmal auf­zu­ge­ben. Aus den ver­voll­stän­dig­ten Sätzen spricht der Drang, etwas seinem Leben hin­zu­zu­fü­gen, was darin fehlt. Oder etwas zu redu­zie­ren, wovon es zu viel gibt – Kilos oder Ziga­ret­ten, Stress oder Streit zum Bei­spiel.

Das kennt man. Ent­spre­chen­de Neu­jahrs­vor­sät­ze füllen ganze Biblio­the­ken. Dass es – nicht selten – an der Umset­zung hapert, schmä­lert die Energie nicht, die dieses Ver­lan­gen, Bestehen­des ändern zu wollen, in sich trägt. Es ist die latente Lust am Unbe­kann­ten, eine unstill­ba­re Sehn­sucht nach Neuem, der Antrieb, etwas ent­de­cken und erfor­schen zu wollen, der Klein­kin­der und Fir­men­grün­der eint, Chris­toph Kolum­bus mit Steve Jobs ver­bin­det, Impf­stoff- und Soft­ware­ent­wick­ler auf einer Wel­len­län­ge schwim­men lässt. Das Ziel ist klar: „Auf zu neuen Ufern!“ Der Weg dorthin: eine große Unbe­kann­te.

Jeden­falls bleiben Ent­de­cker­ty­pen nicht stehen, sondern gehen los, voll­ge­pumpt mit Ambi­tio­nen und Adre­na­lin, „mit feu­ri­gem Wind statt Furcht im Rücken“, wie es die Band Sil­ber­mond in einem ihrer Songs for­mu­liert. „Lass die Angst vorm Schei­tern nicht meine Chancen zer­pflü­cken“, heißt es dort weiter, denn:

Es kann sein, dass ich
dabei meinen Kopf
riskier’, /

und es kann pas­sie­ren, /

dass ich mit blu­ti­gen
Händen vor deiner Tür steh’ /

Und viel­leicht brauch’ ich Dich dann, um gebro­che­ne Knochen zu richten /

Doch soweit ich weiß,
sind die mit den guten
Geschich­ten /

Immer die Mutigen.

Den festen Boden ver­las­sen, die Sicher­heit hinter sich lassen und sich der Ver­un­si­che­rung aus­lie­fern, sich mit Momen­ten der Unschlüs­sig­keit und Wider­sprüch­lich­keit kon­fron­tie­ren – das machen aber nur wenige. Schade eigent­lich. Gehen der Welt die Ent­de­cker aus?

Das nicht. Auch wenn der „Inter­net Explo­rer“ mitt­ler­wei­le am Fried­hof der aus­ge­mus­ter­ten Soft­ware­lö­sun­gen liegt, wird das „Entdecker“-Feuer in diver­sen anderen Pro­dukt­be­zeich­nun­gen weiter am Brennen gehal­ten. Das „Explorer“-Programm der NASA läuft seit über 60 Jahren, wie auch Ford wei­ter­hin PS-starke Autos unter dieser Modell­be­zeich­nung fabri­ziert und auch Nobel­uh­ren, Bil­lig­ho­tels und aller­lei Out­door­aus­rüs­tung werden unab­läs­sig auf diesen image­träch­ti­gen, Aben­teu­er­hun­ger ver­strö­men­den Namen getauft. Da geht schon noch was. Auch ganz ohne war­nen­de Erin­ne­rung an die begrenz­te Rest­le­bens­zeit auf Häu­ser­wän­den. Der Erkun­dungs­drang und Erfin­der­geist der Men­schen ist schließ­lich so alt wie sie selbst und nicht umzu­brin­gen.

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ – das wussten die Men­schen nämlich schon, bevor es ihnen Hermann Hesse als lyri­sche Moti­va­ti­ons­for­mel ins Stamm­buch schrieb. Die Schlüs­sel­zei­le aus seinem „Stufen“-Gedicht wird seither von Hoch­zeits­pre­di­gern und in Eröff­nungs­re­den von Poli­ti­kern dem Publi­kum bis zu kon­tur­lo­sem Gatsch vor­ge­kaut. Ein Beginn ent­fal­tet seine Magie aber auch ohne diese Ein­peit­scher. Denn Ent­de­ckun­gen füllen das Leben nicht nur, es wird dadurch auch (meist) leich­ter, (manch­mal) länger und (hof­fent­lich) lus­ti­ger und lebens­wer­ter. Das fängt weit vor der Nutzung des Feuers und der Erfin­dung von Rad, Blitz­ab­lei­ter und Pocken­schutz­imp­fung an und hört bei Was­ser­stoff-Brenn­stoff­zel­len, Bastler-App und Ein­park­hil­fe­ge­piep­se noch lange nicht auf.

Ziel und Antrieb, Neues zu erfin­den, haben sich frei­lich ver­än­dert. Die Absicht, damit nicht nur die Welt zu ver­bes­sern, sondern auch seinen Kon­to­stand, ist zu einem wesent­li­chen Motor gewor­den. Um den sprich­wört­li­chen „Got­tes­lohn“ und für ein ami­ka­les Schul­ter­klop­fen macht es heute fast keiner mehr. Die Ska­lier­bar­keit einer neuen Geschäfts­idee ist längst zum Haupt­kri­te­ri­um, nicht nur in diver­sen Inves­tor-Start-up-Pitches, gewor­den. Heute beglü­cke ich mit meiner Geschäfts­idee mein Hei­mat­dorf und morgen die ganze Welt: auch so ein Modell, das durch güns­ti­ge Mas­sen­pro­duk­ti­on, glo­ba­li­sier­te Märkte und einen ent­spre­chend kon­sum­ori­en­tier­ten Zeit­geist ermög­licht und befeu­ert wird. Ob das Neue auch immer etwas Nütz­li­ches ist, steht frei­lich auf einer anderen Rech­nung. Und es stimmt, dass die Sehn­sucht nach Neuem viel­fach zu einer Sucht ver­kom­men ist. Manches, was unter „Explo­ra­ti­on“ läuft, ist eben ein Kind seiner Zeit, dessen Glanz irgend­wann ver­blüht. Frag nach bei Erd­öl­la­ger­stät­ten und ihrer Erkun­dung und Nutzung: Gestern hui, heute pfui!

Die Ver­gäng­lich­keit des Nutzens auf der einen Seite ist aber gleich­zei­tig auch Motor eines Neu­be­ginns an andere Stelle. Fle­xi­bi­li­tät und Mobi­li­tät gehören dabei zur Grund­aus­stat­tung. Denn kon­sis­ten­te, lineare und lang anhal­ten­de Kar­rie­ren mit einem schon am Start­punkt fest­ge­leg­ten, weit in der Zukunft lie­gen­den Ende sind heute weder bei Haus­halts­ge­rä­ten oder Com­pu­ter­pro­gram­men noch bei Berufs­kar­rie­ren die Regel. Im Gegen­teil. Das System scheint aus den Fugen geraten. Als „Sat­tel­zeit“ bezeich­net der Indus­tri­el­le Hannes Androsch diese Phase der Gewichts- und Bedeu­tungs­ver­schie­bun­gen in einem Essay. Die alte Sta­bi­li­tät ver­schwin­det, das Neue ist aber noch wacke­lig. So folge der phy­si­schen Selbst­ver­stär­kung des Men­schen durch Maschi­nen, Fahr- und Flug­zeu­ge sowie der Aus­wei­tung der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten nun, so Androsch, die kogni­ti­ve Ver­bes­se­rung mit Big Data, Algo­rith­men, selbst­ler­nen­der künst­li­cher Intel­li­genz, Com­pu­te­ri­sie­rung, Block­chain und Robo­ti­sie­rung. Dazu kommen Krisen, der Kli­ma­wan­del und zuletzt ein Krieg, wodurch lieb­ge­won­ne­ne Nor­ma­li­tä­ten ver­lo­ren gegan­gen sind. Die Welt scheint kopf­zu­ste­hen.

In diesem Zeit­al­ter der Irrun­gen, Ver­wir­run­gen und Spal­tun­gen ist viel Platz für frei­wil­li­ge oder erzwun­ge­ne, jeden­falls aber häufige Neu­starts. Kurio­ser­wei­se können gerade Rou­ti­nen Sta­bi­li­tät in diese Unruhe zu bringen, weil sie helfen, wie­der­keh­ren­de Pro­zes­se effi­zi­ent aus­zu­füh­ren. Sie schaf­fen dadurch Platz und Zeit, sich Inno­va­ti­vem zu widmen. Rou­ti­nen können Ent­de­ckun­gen aber auch bremsen oder ver­hin­dern, weil sie ver­füh­re­risch sind und dazu ver­lei­ten, sich auf dem Bekann­ten und Gewöhn­li­chen aus­zu­ru­hen. Warum sollte man die Gemüt­lich­keit über Bord werfen?

Frei­lich kann man jede Ver­än­de­rung bekla­gen und ver­teu­feln und sich ihr ver­wei­gern. Oder man kann die Bequem­lich­keit, Behar­rung und Ver­hin­de­rung gegen zukunfts­ori­en­tier­ten Gestal­tungs­wil­len ein­tau­schen und ver­su­chen, im Abwechs­lungs­reich­tum das Mehr an Mög­li­chem zu finden. Denn diese Bruch­li­ni­en und Abriss­kan­ten, groß­spu­rig auch „Zei­ten­wen­den“ genannt, sind frucht­ba­re Zonen für den Ent­de­cker­geist. Er bricht auf, was ver­krus­tet ist, denkt das Unmög­li­che, um die Grenzen des Mög­li­chen zu ver­schie­ben, und tut das ver­meint­lich Sinn­lo­se, um zu einer sinn­vol­len Lösung zu kommen. Es ist der Bereich, in dem ver­han­delt, expe­ri­men­tiert, gesucht und gefun­den wird. Es ist der Teil der Welt, der in Bewe­gung ist. Es geht dabei nicht um Gren­zen­lo­sig­keit, sondern um Durch­läs­sig­keit. Es geht darum, neue Regeln zu defi­nie­ren. Das klingt rück­wärts­ge­wandt, ist aber doch die einzige Chance vor­an­zu­kom­men.

In diesem Mindset wurzelt unter anderem das Dogma vom „lebens­lan­gen Lernen“. Von ihrer eigenen Schul­erfah­rung aus­rei­chend Trau­ma­ti­sier­te sehen darin den holz­schnitt­ar­ti­gen Zwang, Formeln, Normen und Voka­beln stre­bern zu müssen, nur um am Ende irgend­ein Zeugnis, einen Titel oder ein Amt umge­hängt zu bekom­men. Echte Ent­de­cker jedoch deuten es als Rahmen, ihre Neugier aus­le­ben und in unbe­kann­tes Land vor­drin­gen und neue Welten erfor­schen zu können. Das bekommt dann beinahe etwas Hel­den­haft-Über­ir­di­sches. Als wäre man neben Captain Kirk und Com­man­der Spock an Bord des Raum­schiffs Enter­pri­se und „dringt in Gala­xien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat“.

Abseits von Satire, Zynis­mus und dem Welt­raum bleibt noch immer eine Haus­wand, auf der sich seine Ziele als Explo­rer fest­schrei­ben lassen.
Oder ein Blatt Papier. Also, her mit einem Stift und machen wir es hier und jetzt ver­bind­lich:

Before I die I want to …

Text: Klaus Höfler

Illus­tra­ti­on: Gernot Reiter

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