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Was für ein Erleb­nis!

Wer wissen will, wie unsere Kon­sum­ge­sell­schaft funk­tio­niert, muss die Spiel­re­geln der Expe­ri­ence-Economy kennen. Ein Ein­kaufs­bum­mel zwi­schen Erfah­rung und Erleb­nis.

Ganz ohne Krisen wäre das Leben ziem­lich lang­wei­lig, oder? Ganz ohne Kata­stro­phe, die einen zum Inne­hal­ten, Umdre­hen oder Abbie­gen zwingt, ganz ohne Knack­punkt, an dem etwas weg­bricht, ganz ohne Kapi­tu­la­ti­on vor dem Übli­chen – wenn also alles so ist, wie es immer schon war: Ein solches Dasein wäre weniger beru­hi­gend als irgend­wann trost­los und fad.
Es muss ja nicht gleich der totale Kollaps sein, aber irgend­ein „beleh­ren­des Erleb­nis, das Erkennt­nis zu einer Sache ein­bringt“ und einen aktiv werden lässt – das wäre im Sinne des Fort­schritts schon wün­schens­wert.

Ein „beleh­ren­des Erleb­nis, das Erkennt­nis zu einer Sache ein­bringt“ also: Das muss einem auch erst einmal ein­fal­len, wenn man ver­sucht „Erfah­rung“ zu defi­nie­ren. Anony­men Intel­lekt­ar­tis­ten ist es ein­ge­fal­len. Und sie haben Wiki­pe­dia damit gefüt­tert, jenes digi­ta­le Museum des All­ge­mein­wis­sens, das alles weiß, wenn man selbst nicht mehr wei­ter­weiß. Der Muse­ums­be­such ent­führt einen in ein weites Land der Erkennt­nis. Man lernt, dass „Erfah­rung“ sich vom Mit­tel­hoch­deut­schen „erva­run­ge“ ablei­tet, was so viel wie „Durch­wan­de­rung“ oder „Erfor­schung“ bedeu­tet. Diese For­schungs­rei­se führt weiter ins Eng­li­sche, wo man bei „Expe­ri­ence“ landet, womit sich der seman­ti­sche Raum von der „Erfah­rung“ auf­spannt Rich­tung „Erleb­nis“, sich also beide Bedeu­tun­gen – das Erkennt­nis­haf­te und das Ereig­nis­haf­te – mit­ein­an­der ver­bin­den.

An diesem Punkt: Raus aus dem Kop­fi­gen, rein ins Kon­kre­te: „Expe­ri­ence“ – was ist das? Wer braucht’s? Was bringt’s?

Auf der Suche nach Ant­wor­ten landet man beim ame­ri­ka­ni­schen Psy­cho­lo­gen Mihaly Csikszent­mi­ha­lyi, der Ende der 1990er-Jahre ein Buch mit dem Titel „Flow: The Psy­cho­lo­gy of Optimal Expe­ri­ence“ her­aus­gibt. Darin beschreibt er das Gefühl, das Höchst­leis­ter wie Manager, Mütter oder Mara­thon­läu­fer gut kennen: Sie emp­fin­den ihre Anstren­gung, ihre Mühen auch als lust­voll, weil sie Erfül­lung bringen. Sie sind während ihres Tuns im „Flow“.

Leis­tung, so Csikszent­mi­ha­ly­is daraus destil­lier­te Theorie, macht glück­lich. Zunächst über­ti­telt er sein Denk­mo­dell mit „auto­te­lic expe­ri­ence“, abge­lei­tet vom grie­chi­schen Wort „Auto­te­los“. Kennt niemand, ver­steht keiner, beschreibt aber einen Zweck, der in der Akti­vi­tät selbst liegt: Man macht Musik um des Spie­lens willen und nicht, damit man hin­ter­her Musik gemacht haben wird. Später nennt Csikszent­mi­ha­lyi dieses völlige Auf­ge­hen in einer Tätig­keit einfach „Flow-Theorie“. Kennt man, ver­steht man.

Men­schen, die „im Flow“ sind oder „einen Flow (in Deutsch am ehesten: einen Lauf) haben“, fragen nicht, wie spät es ist, sie ver­ges­sen ihre Umwelt, ob sie schon geges­sen haben und dass sie für heute Abend eigent­lich ein Treffen aus­ge­macht hatten. Sie merken die Anstren­gung nicht und nicht das Ego­ma­nisch-Nerdige ihres Tuns. Sie folgen einem Leis­tungs­trieb, der unsere Evo­lu­ti­on geprägt hat – nämlich sich mit einer vor­han­de­nen Man­gel­si­tua­ti­on nicht abzu­fin­den, sondern trieb­haft nach einer Lösung zu suchen. Sie haben eine unstill­ba­re Neugier, zumin­dest aber keine Angst vor Anstren­gung und keine Abnei­gung gegen­über Leis­tung. Dafür braucht es eine gewisse Ein­stel­lung und Über­zeu­gung, was die Mühen bringen: Erfül­lung – eine Expe­ri­ence.

Neben diesem Schaf­fens­aspekt gibt es aber auch die Nut­zer­per­spek­ti­ve. In unserer spät­pu­ber­tä­ren Form des Kapi­ta­lis­mus, in der wir trotzig immer noch mehr wollen und uns einen feuch­ten Stiefel darum kümmern, ob ver­nunft­be­gab­te­re Zeit­ge­nos­sen vor einer Aus­beu­tung des Globus oder den Grenzen des Wachs­tums warnen, reicht das banale Wir­kungs­drei­eck Kaufen-Haben-Nutzen nämlich schon lange nicht mehr. Um sich von der nüch­ter­nen Bedürf­nis­be­frie­di­gung abzu­gren­zen und als hedo­nis­ti­sches Genuss­pro­jekt zu glit­zern, braucht der Konsum einen Zusatz­fak­tor: Erleb­nis – eine Expe­ri­ence.

Das führt ziem­lich schnur­ge­ra­de in eine eigene Spiel­art der Öko­no­mie: zum Begriff der Expe­ri­ence-Economy – im Deut­schen Erleb­nis-Öko­no­mie. Erst­mals taucht er 1998 in Arbei­ten der beiden ame­ri­ka­ni­schen Wis­sen­schaf­ter Joseph Pine und James Gilmore auf. Deren These: Die Wirt­schaft hat sich von einer Dienst­leis­tungs­öko­no­mie zu einer Erleb­nis­öko­no­mie ent­wi­ckelt. In dieser neuen Wirt­schafts­ära müssen Unter­neh­men demnach nicht nur qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge Pro­duk­te pro­du­zie­ren, sondern dafür sorgen, dass den Kunden mit dem Produkt auch ein unver­gess­li­ches Erleb­nis als Mehr­wert geboten wird.

Ist ein Angebot erst einmal mit einer tollen Story hin­ter­legt, kann sich das Gesamt­pa­ket zu einem tren­di­gen Umsatz­trei­ber ent­wi­ckeln. Kann – muss aber nicht. Zahllos sind die prä­sum­ti­ven Best­sel­ler, die es nie über den Status eines Rohr­kre­pie­rers hinaus geschafft haben, weil statt Erleb­nis Ent­täu­schung mit­ge­lie­fert wurde.

Schuld daran ist nicht selten die Glo­ba­li­sie­rung. Sie schmilzt Exklu­si­ves zu Mas­sen­wa­re ein, Beson­de­res zu Banalem, Luxus­wa­re zu Bil­lig­ramsch, weil sich immer irgend­wo irgend­je­mand auf der Welt findet, der es güns­ti­ger (nach-)macht. Das mag über­spitzt for­mu­liert sein, ist aber eines der Funk­ti­ons­mus­ter der welt­weit ver­ban­del­ten und opti­mier­ten Kon­sum­in­dus­trie. Dafür muss man nicht Soft­ware­ent­wick­lun­gen wie Cloud-Dienste oder Online-Shop­ping-Platt­for­men als vir­tu­el­le Zeugen vor­la­den, es reicht ein Blick aufs eigene Kon­sum­ver­hal­ten: Man kauft alpine Trach­ten­hem­den bei der schwe­di­schen Bil­lig­mo­de­ket­te, Werk­zeug und Küchen­ar­ti­kel chi­ne­si­scher Mar­ken­nach­bau­pro­fis beim Lebens­mit­tel­dis­kon­ter.

„Ein­spruch!“, könnte man an dieser Stelle rufen. „Wo ist zwi­schen Wühl­ber­gen und Regal­gas­sen die hoch­ge­lob­te Con­su­mer-Expe­ri­ence?“ Stimmt. Joseph Pine nennt diesen Heiß­hun­ger nach anony­mer Mas­sen­wa­re im Schat­ten der Expe­ri­ence Economy einen „Begleit-Trend“: Auf der einen Seite wollen Kunden manches zum nied­rigst­mög­li­chen Preis in kür­zest­mög­li­cher Zeit ein­kau­fen, auf der anderen Seiten möchten sie ihr hart ver­dien­tes Geld aber in Erleb­nis­se inves­tie­ren, die exklu­siv und alles andere als billig sind. Sie bleiben erleb­nis­gie­rig – trotz „Geiz ist geil“-Mentalität.

Das macht es für die Erleb­nis-Anbie­ter nicht ein­fa­cher. Es reicht nicht mehr, her­vor­ra­gen­de Pro­duk­te zum besten Preis und exzel­len­ten Service anzu­bie­ten. Das kann dank glo­ba­li­sier­ter Waren­strö­me und welt­weit ver­füg­ba­re Tech­no­lo­gie die Kon­kur­renz auch. Es braucht ein ein­zig­ar­ti­ges Kauf-Aben­teu­er als Unter­schei­dungs­merk­mal.

Die Expe­ri­ence-Economy wird zum Dienst­leis­tungs­thea­ter: Mit­ar­bei­ter, die etwas ver­kau­fen wollen, stehen auf der Bühne, der Kunde ist – bevor er zum Käufer wird – Publi­kum, das es mit einem mög­lichst guten Stück zu über­zeu­gen gilt. Diese Cus­to­mer Expe­ri­ence endet aber nicht an der Kasse mit einem voll­ge­füll­ten Waren­korb, sondern geht nach dem Bezah­len auf beiden Seiten der Bühne weiter. Die Dienst­leis­ter ana­ly­sie­ren die digi­ta­le Kör­per­spra­che ihrer Kunden. Aus dem Kauf­ver­hal­ten erstel­len sie Kun­den­pro­fi­le, um beim nächs­ten Thea­ter­be­such ein per­so­na­li­sier­tes Stück nach Vor­lie­be des Kunden anbie­ten zu können. Scoring nennt man diese Bewer­tung und Gewich­tung von Inter­ak­tio­nen zu einem Daten­pro­fil. Die Käufer wie­der­um füttern Bewer­tungs­por­ta­le von Preis- und Such­ma­schi­nen, posten und teilen ihre Erleb­nis­se auf Social Media-Platt­for­men.

An jedem ein­zel­nen Berüh­rungs­punkt wird die Cus­to­mer Expe­ri­ence in Daten umge­wan­delt. „What gets mea­su­red, gets managed“ – was gemes­sen werden kann, wird gemes­sen und genutzt – lautet die Prä­mis­se. Das mag ver­stö­ren, als veri­ta­ble Krise unseres Kon­sum­ver­hal­tens, als Kollaps selbst­be­stimm­ten Han­delns oder einfach nur als „Kata­stro­phe!“ titu­liert werden. Aber in Wahr­heit ist es nur Ergeb­nis eines Erleb­nis­ses, nach dem sich Kunden mehr­heit­lich sehnen. Eine bittere Erfah­rung viel­leicht. Jeden­falls aber eine Expe­ri­ence.

Illus­tra­ti­on: Gernot Reiter

 

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