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Stern­stun­de für Digital Health

Die Tele­me­di­zin hat in den ver­gan­ge­nen Wochen einen neuen Stel­len­wert erhal­ten. Über ihre Mög­lich­kei­ten und Grenzen, den Digi­ta­li­sie­rungs­boost im Gesund­heits­be­reich und die Inno­va­tio­nen stei­ri­scher Human­tech­no­lo­gie.

Die Corona-Krise hat viel in Bewe­gung gebracht: „Stra­te­gisch lange als Schwer­punkt defi­niert, oft ver­hin­dert, ist die Tele­me­di­zin nun plötz­lich möglich“, kon­sta­tiert auch Johann Harer, Geschäfts­füh­rer des stei­ri­schen Human­tech­no­lo­gie-Clus­ters. Alex­an­der Moussa, IT-Refe­rent in der Ärz­te­kam­mer Stei­er­mark und Obmann der Sektion All­ge­mein­me­di­zin, spricht von einem „digi­ta­len Damm­bruch“. Covid-19 fun­giert als Kata­ly­sa­tor der Tele­me­di­zin: „Es wird ersicht­lich, wie man die Infor­ma­ti­ons- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gie ver­wen­den kann, um Betreu­ungs­pro­zes­se zu unter­stüt­zen, Per­so­nen zu ent­las­ten und die Infra­struk­tur res­sour­cen­scho­nen­der ein­zu­set­zen“, sagt Anton Dun­zen­dor­fer, Head of Com­pe­tence Unit Digital Health Infor­ma­ti­on Systems am Aus­tri­an Insti­tu­te of Tech­no­lo­gy (AIT).

Der US-Tech­nik­an­bie­ter Atlas VPN erhebt mit­hil­fe von „Google Trends“ die Beliebt­heit des Such­be­grif­fe „Telemedicine/Telemedizin“ bereits seit 2004. Im Jänner dieses Jahres lag der Wert auf der 100-teil­i­gen Skala bei 15. Bis März stieg die Zahl auf 97 – eine Stei­ge­rung um 546 Prozent. Im April wurde der Maxi­mal­wert von 100 erreicht. Das Thema hat in der Corona-Krise große Bedeu­tung bekom­men. Auch in den stei­ri­schen Arzt­pra­xen wurden tele­me­di­zi­ni­sche Mög­lich­kei­ten für Erst­ge­sprä­che, Befund­be­spre­chun­gen und The­ra­pie­pla­nung im Echt­be­trieb erprobt und Her­aus­for­de­run­gen der Technik und Limi­tie­run­gen bei Dia­gnos­tik sicht­bar. Nach der Krise hält Dietmar Bayer, Prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Gesell­schaft für Tele­me­di­zin und Vize­prä­si­dent der Ärz­te­kam­mer Stei­er­mark, eine ein­ge­hen­de Analyse für unab­ding­bar, Moussa unter­streicht die Bedeu­tung der Daten­si­cher­heit für eine lang­fris­ti­ge Tele­me­di­zin-Stra­te­gie.

Vor­rei­ter im Tele­mo­ni­to­ring

Bei Tele­mo­ni­to­ring-Pro­jek­ten für das The­ra­pie­ma­nage­ment bei chro­ni­schen Erkran­kun­gen hat die Stei­er­mark eine Vor­rei­ter­rol­le. „Hier geht es vor allem um Herz­in­suf­fi­zi­enz, Dia­be­tes mel­li­tus und Blut­hoch­druck. Immer mehr Bedeu­tung bekom­men auch Ansätze in der Reha­bi­li­ta­ti­on“, sagt Dun­zen­dor­fer. „Ein aktu­el­les Bei­spiel ist das Projekt Herz­mo­bil für Pati­en­ten mit Herz­pro­ble­men, bei dem nicht nur ärzt­li­che und pfle­ge­ri­sche Kon­sul­ta­tio­nen teil­wei­se auf diesem Weg erle­digt werden können, sondern die Pati­en­ten zu Beginn auch darin geschult werden, stan­dar­di­sier­te Unter­su­chun­gen selbst vor­zu­neh­men, deren Ergeb­nis­se dann von den Geräten an das jewei­li­ge Spital über­mit­telt werden“, sagt Kages-Unter­neh­mens­spre­cher Rein­hard Marczik.

Selbst­mess­wer­te werden mittels Near-Field-Com­mu­ni­ca­ti­on-Tech­no­lo­gie und Smart­phone-Apps an die Daten­zen­tra­le über­tra­gen, die Pati­en­ten erhal­ten Rück­mel­dun­gen von Arzt oder The­ra­peu­ten. Das Service wird auf Basis der AIT-Tele­he­alth-Platt­form in Koope­ra­ti­on mit dem Medi­zin­tech­nik­un­ter­neh­men tel­bio­med ange­bo­ten. Das Projekt, das seinen Aus­gangs­punkt im LKH Bruck an der Mur nahm, soll bis 2022 auf die gesamte Stei­er­mark aus­ge­wei­tet werden. Ähn­li­che Modelle exis­tie­ren mit Diab­Me­mo­ry, gestar­tet im Mürztal, und Car­dio­Me­mo­ry auch für Pati­en­ten mit Dia­be­tes und Hyper­to­nie. Tele­der­ma­to­lo­gie wird unter anderem im Bezirk Liezen erprobt. Das Telere­ha­bi­li­ta­ti­ons­pro­jekt Health­-E-Bikes umfasst die The­ra­pie mit E‑Bikes mit indi­vi­du­el­len Trai­nings­pro­fi­len und einer Kon­trol­le der Leis­tungs­da­ten als auch Ergo­me­ter­trai­ning für Pati­en­ten nach Herz-Bypass-OP, Herz­in­farkt oder Schlag­an­fall.

„Her­aus­for­de­run­gen bei der Ent­wick­lung von Anwen­dun­gen für Tele­ge­sund­heits­diens­te liegen im tech­ni­schen, orga­ni­sa­to­ri­schen und finan­zi­el­len Bereich. Tech­nisch müssen die Systeme mög­lichst einfach für jede Person bedien­bar sein. Erfah­run­gen aus der Stei­er­mark und Tirol zeigen, dass extra dafür orga­ni­sier­te Betreu­ungs­teams aus unter­schied­li­chen Gesund­heits­pro­fes­sio­nen die Basis für den erfolg­rei­chen Tele­mo­ni­to­ring-The­ra­pie­pro­zess bilden“, betont Dun­zen­dor­fer. Was sind Stoß­rich­tun­gen für die Zukunft? Mit der Zunahme an elek­tro­ni­schen Gesund­heits­da­ten wird die Errich­tung vor­aus­schau­en­der Modelle für ein­zel­ne Per­so­nen möglich, so der AIT-Experte, „um zum Bei­spiel eine Ver­schlech­te­rung des Gesund­heits­zu­stan­des recht­zei­tig zu erken­nen und die not­wen­di­gen Schrit­te im The­ra­pie­pro­zess ein­zu­lei­ten“.

Hart am Puls der Zeit

Der Trend zur Digi­ta­li­sie­rung hat gerade auch in der Stei­er­mark einen deut­li­chen Boost erfah­ren, der Human­tech­no­lo­gie-Bereich ist ver­stärkt sicht­bar gewor­den. Die Corona-Krise hat die Inno­va­ti­ons­kraft regel­recht her­aus­ge­for­dert und Ener­gien frei­ge­setzt. Eine Reihe stei­ri­scher Unter­neh­men der Life-Science-Branche hat unmit­tel­bar auf die bri­san­te Lage reagiert. In kür­zes­ter Zeit haben diese Ver­fah­ren modi­fi­ziert, neue Tools und Ser­vices eta­bliert.

Mikro­chip-Experte und Bio­me­di­zi­ner Werner Koele hat ein High­tech-Produkt für weitere Anwen­dun­gen fit gemacht. Der in ein Haut­pflas­ter inte­grier­te hoch­prä­zi­se Tem­pe­ra­tur­sen­sor, der in Kom­bi­na­ti­on mit einer Smart­phone-App ange­wen­det wird, wurde im Vorjahr zur Bestim­mung der frucht­ba­ren Tage von Frauen auf den Markt gebracht. Die Soft­ware des erprob­ten Systems wurde modi­fi­ziert, um eine kon­ti­nu­ier­li­che Online-Tem­pe­ra­tur­mes­sung zur Früh­erken­nung von Sars-CoV-2-Infek­tio­nen ein­set­zen zu können. Das Ziel des „Ste­ady­Temp“ Systems: ein effek­ti­ves Scree­ning von expo­nier­ten Per­so­nen- und Risi­ko­grup­pen, etwa im Kran­ken­haus­be­reich und in der Pflege. Das Projekt hat beim FFG Emer­gen­cy Call Covid-19 den Zuschlag erhal­ten, es laufen Ver­hand­lun­gen zum Einsatz im Kran­ken­haus­be­reich und beim Bun-desheer.

Beson­de­re Auf­merk­sam­keit gilt in diesen Tagen gerade auch Men­schen mit Vor­er­kran­kun­gen – Dia­be­tes mel­li­tus ist eine davon. Denn sie stellt einen Risi­ko­fak­tor für schwer­wie­gen­de Ver­läu­fe von Covid-19 dar. Kapsch Busi­ness­Com ent­wi­ckel­te daher inner­halb kurzer Zeit eine digi­ta­le Daten­er­fas­sung für die „Öster­rei­chi­sche Dia­be­tes Gesell­schaft“. Das in sechs Bun­des­län­dern durch­ge­führ­te For­schungs­pro­jekt dient der Prüfung von Zusam­men­hang und Aus­wir­kung der Erkran­kung auf Dia­be­tes-mel­li­tus-Pati­en­ten. Dabei werden rele­van­te Para­me­ter wie Labor­wer­te, Begleit­erkran­kun­gen und Medi­ka­ti­on erfasst.

Um das Res­sour­cen­ma­nage­ment in der Pan­de­mie zu unter­stüt­zen, hat das Unter­neh­men Sol­ge­ni­um die elek­tro­ni­sche Platt­form für Per­so­nal­ma­na­ga­ge­ment „Cara“ für eine kos­ten­freie, web­ba­sier­te Cloud-Platt­form adap­tiert. Das Pro­gramm errech­net je nach Zahl der Infi­zier­ten und Ver­dachts­fäl­le nicht nur den Per­so­nal­be­darf, sondern auch jenen an Betten, medi­zi­ni­schen Geräten und per­sön­li­cher Schutz­aus­rüs­tung. Es gibt detail­lier­te Hand­lungs­emp­feh­lun­gen. Die epi­de­mio­lo­gi­schen Daten werden in einer Koope­ra­ti­on von der Uni­ver­si­tät Oxford bereit­ge­stellt, die intel­li­gen­ten Algo­rith­men zur Bedarfs­ana­ly­se und ‑berech­nung hat Sol­ge­ni­um ent­wi­ckelt. Aktuell erfolgt der Einsatz in Öster­reich und 14 Ländern. „Das Land Stei­er­mark hat sich einem For­schungs­pro­jekt zur inhalt­li­chen Wei­ter­ent­wick­lung dieser Spe­zi­al­ver­si­on ange­schlos­sen“, so Geschäfts­füh­rer Andreas Dienst­hu­ber.

Den freien Zugang zu einer neuen Anwen­dung stellt das Grazer Deep-Tech-Unter­neh­men KML Vision auf seiner Online­platt­form Ikosa zur Ver­fü­gung: Dabei geht es um eine auto­ma­ti­sier­te Analyse von Rönt­gen­bil­dern. Sie beruht auf einem Algo­rith­mus, der sich künst­li­che Intel­li­genz zunutze macht, und mittels Scree­nings inner­halb von Sekun­den zwi­schen nor­ma­len Befun­den und an Covid-19 erkrank­ten Per­so­nen unter­schei­den kann. Ent­wi­ckelt wurde dieser Algo­rith­mus von einem kana­di­schen For­schungs­team. Er kann in der aktu­el­len Vari­an­te nicht zur Dia­gno­se, sondern rein zur For­schung ver­wen­det werden. „Die Bereit­stel­lung solcher frei ver­füg­ba­ren Algo­rith­men und Daten liefert einen Anstoß zur For­schung und Ent­wick­lung von künst­li­cher Intel­li­genz als unter­stüt­zen­des Werk­zeug in den Kli­ni­ken”, erklärt Geschäfts­füh­rer Philipp Kainz.

Den Stel­len­wert eta­blier­ter Netz­wer­ke unter­streicht Kurt Zat­lou­kal, Leiter des öster­rei­chi­schen Kno­ten­punk­tes BBMRI.at am Grazer Zentrum für Wissens- und Tech­no­lo­gie­trans­fer in der Medizin, mit Verweis auf die euro­päi­sche For­schungs­in­fra­struk­tur BBMRI-ERIC. In einem welt­weit ein­zig­ar­ti­gen Projekt zur Digi­ta­li­sie­rung von Bio­bank­pro­ben werden derzeit in Koope­ra­ti­on mit schwe­di­schen und ame­ri­ka­ni­schen Markt­füh­rern Tau-sende Gewe­be­schnit­te gescannt. Auf diese Weise gene­riert man Daten für die künst­li­che Intel­li­genz zur künf­ti­gen Analyse krank­haf­ter Gewe­be­ver­än­de­run­gen. „Es ist nicht das Ziel, dass die künst­li­che Intel­li­genz den Arzt erset­zen soll. Ganz im Gegen­teil. Meh-rere Studien haben gezeigt, dass in der Kom­bi­na­ti­on – Exper­ti­se des Arztes und künst­li­che Intel­li­genz – am meisten erreicht werden kann.“

 

Illus­tra­ti­on: Rein­hard Guss­m­agg

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