Wolf­gang Wildner|

Passion 4.0

Alles brennt – bitte löschen! Sequenzen einer leidenschaftsloseren Logik der Leidenschaft. Jüngst erwachte ich ... Nein, nicht aus einem Traum, sondern in einem Traum, präziser: in einem Traum aus einem Traum.

Unent­rinn­bar klaus­tro­phob. Und zwar als Unter­neh­mer. Nicht Mathe­ma­tik­ma­tu­rant, nein, Unter­neh­mer. Höchst­stra­fe. Kafka! Ein Alb­druck, der mich erbar­mungs­los mit der dis­rup­ti­ven Ent­wer­tung meines unter­neh­me­ri­schen Welt­bil­des kon­fron­tiert, das mich bislang ver­läss­lich über alle kon­junk­tu­rel­len und betriebs­wirt­schaft­li­chen Untie­fen hin­weg­ge­tra­gen hat. Peng! Alle Gewiss­hei­ten haben sich in ihr Gegen­teil ver­kehrt: „Dein unter­neh­me­ri­sches Impe­ri­um“, brüllt das unsicht­ba­re Schwur­ge­richt in mir, „ist nicht auf Sand gebaut, sondern – viel schlim­mer! – auf Lei­den­schaft. Auf deine Lei­den­schaft und die Lei­den­schaf­ten deiner Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter.“ Panik! Schlag­ar­tig ist mir klar, dass das Fun­da­ment meines Erfol­ges zer­brö­selt, wie der Sand am Strand von Bibione zwi­schen den Fingern zer­rinnt.

„Du prä­fe­rierst“, höhnt es in mir, „Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter, die lei­den­schaft­lich sind und für die Sache brennen. Für deine Sache, du Dolm, wie kommst du auf so eine Idee?! Vor ver­sam­mel­ter Beleg­schaft bei stim­mungs­vol­len Anläs­sen, bei Ehrun­gen und Fir­men­fei­ern gibst du in ein­dring­li­chen Worten Sätze von dir wie: Lei­den­schaft, Lei­den­schaft, Lei­den­schaft – auf die Lei­den­schaft kommt es an. Bei uns können Sie Ihre Lei­den­schaft leben. Irrwitz! Und wie gerührt du bist, wenn deine Leute beflis­sen nicken.“

Wie in einer Uran­an­rei­che­rungs­zen­tri­fu­ge schwir­ren die Fetzen meiner unter­neh­me­ri­schen Iden­ti­tät immer rasen­der und rasen­der durch mein Hirn, bloß mit dem gegen­tei­li­gen Effekt: Auch die letzten Bruch­stü­cke lösen sich auf. Das Ide­al­bild meines Unter­neh­mens als eines ener­ge­ti­schen Druck­kes­sels, in dem sich Lei­den­schaf­ten zu höherer Energie ver­dich­ten, inno­va­tiv, dyna­misch, selbst­be­wusst, mutig, unwi­der­steh­lich, rast mit aber­wit­zi­ger Geschwin­dig­keit auf ein alle ver­meint­li­chen Gewiss­hei­ten auf­sau­gen­des nihi­lis­ti­sches Loch zu. Die Wirk­lich­keits­kom­mis­si­on in mir dekla­miert jetzt emo­ti­ons­los abge­hackt wie eine schlecht geölte Com­pu­ter­stim­me aus einem Science-Fiction-Film der 1980er: „Du soge­nann­ter selbst­er­nann­ter Entre­pre­neur, du schließt von einem mut­maß­lich idea­li­sier­ten Selbst­bild, also von dir, wie du dich gerne sehen würdest, auf andere. Du läufst Gefahr, diese Pro­jek­ti­on einer lei­den­schafts­ge­trie­be­nen per­sön­li­chen Busi­ness­leit­kul­tur für bare Münze zu nehmen. Glaubst du wirk­lich, dass die Lei­den­schaft, die dir im Assess­ment-Center ent­ge­gen­schlägt, authen­tisch ist? Wenn du die Wahr­heit wissen willst, dann schlie­ße Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber an einen Lügen­de­tek­tor an. Es gilt die Unschulds­ver­mu­tung.“

Immer noch im Traum lande ich in einem Schock-Work­shop zur Selbstre­inkar­na­ti­on von Unter­neh­me­rin­nen und Unter­neh­mern, die sich hoff­nungs­los in den dop­pel­ten Böden geträum­ter Alb­träu­me ver­lo­ren haben. Auch dort lamen­tiert eine löch­ri­ge Com­pu­ter­stim­me: „Du weißt um die begrenz­te Ver­füg­bar­keit von Fach­kräf­ten und High Poten­ti­als. Du bist dir des Wei­te­ren auch darüber im Klaren, dass nur ein relativ beschei­de­ner Anteil der Men­schen über eine sich vor­wie­gend auf die beruf­li­che Tätig­keit bezie­hen­de intrin­si­sche Höchst­mo­ti­va­ti­on, sprich tabu­lo­se Lei­den­schaft, verfügt. Du bist auch mit der che­mi­schen Gesetz­mä­ßig­keit ver­traut, dass auf kurz oder lang ver­brennt, was brennt. Anders aus­ge­drückt: Es ent­steht zwar Energie, aber auf Kosten der Sub­stanz. Auch auf psy­chi­sche Ener­gie­quel­len bezogen spre­chen wir in diesem Kontext vom Aus­bren­nen, du Knall­kopf. Bei manchen mag das Feuer länger lodern, bei anderen ver­lischt die Flamme rasch. Wach auf!“

Als ich aus dem Traum, in dem ich alb­traum­haft geträumt hatte, dass ich als Unter­neh­mer aus einem Traum erwacht war, endlich mit Evidenz wirk­lich erwacht war, fühlte ich mich weder wie ein Unter­neh­mer noch wie eine Uran­zen­tri­fu­ge, sondern wie die inners­te von min­des­tens sieben inein­an­der­ge­steck­ten rus­si­schen Matrjosch­ka-Puppen und begann mich in dieser see­li­schen Ein­schicht unver­züg­lich auf das Leit­the­ma dieser Ausgabe ein­zu­brü­ten: Lei­den­schaft, Passion, Hingabe.

Neulich wurde ich bei einer abend­li­chen Cham­pi­gnons-League-Über­tra­gung (übri­gens keine Lei­den­schaft, sondern lieb gewon­ne­ne Ent­span­nungs­übung) vom Kom­men­ta­tor nach­drück­lich auf das Ver­hal­ten des – wie er auch nicht müde wurde zu betonen: argen­ti­ni­schen (Tango ist Lei­den­schaft!) – Trai­ners von Atle­ti­co Madrid, Diego Simeone, hin­ge­wie­sen. Auch die Regie ergriff zahl­rei­che Gele­gen­hei­ten, um den „emo­tio­na­len“ bzw. „lei­den­schaft­li­chen“ Star­trai­ner ins Bild zu rücken. In der Tat bietet Simone das Bild eines in der schwar­zen Päd­ago­gik noch im 20. Jahr­hun­dert häufig apo­stro­phier­ten Rum­pel­stilz­chens, der­ma­ßen hoch­emo­tio­nal, dass man geneigt ist, sich um seine Gesund­heit zu sorgen. Ist das Lei­den­schaft, Passion, Hingabe, Begeis­te­rung, Feu­er­ei­fer, um hier gleich ein paar synonym bzw. bedeu­tungs­ähn­lich ver­wen­de­te Begrif­fe anein­an­der­zu­rei­hen? Oder ist es – ja, was eigent­lich? Eine über­zeu­gend und in diesem Sinne hoch­pro­fes­sio­nell dar­ge­bo­te­ne Gefühls­cho­reo­gra­fie etwa, um sich selbst, den Spie­lern, dem Publi­kum, der Fuß­ball­welt das Bild einer bis in die letzten Fasern seines Körpers und die ent­le­gens­ten Rayons seines Willens von Fuß­ball­lei­den­schaft und Sie­ges­lust durch­drun­ge­nen Mannes zu ver­mit­teln; eine Art Masken- und Mar­ken­bil­dungs­pro­zess: Arbeit an der leben­den Legende.

Heißt es nicht, der Fußball lebe von Lei­den­schaft? Der Lei­den­schaft der Fans, der Spieler, der Trainer. Diego Simeone lebt diese Lei­den­schaft im Trai­ner­amt von Atle­ti­co Madrid seit 2011, seit für den moder­nen Spit­zen­fuß­ball unfass­ba­ren 13 Jahren. Lebt er sie? Oder spielt, ver­kör­pert er sie nur? Ein Lei­den­schafts­dar­stel­ler auf dem Höhe­punkt seiner Kunst. Und – mit Verlaub – spielt das denn über­haupt eine Rolle? Wäre nicht beides gera­de­zu hero­isch, um nicht zu sagen über­mensch­lich? Bei einer gefühl­ten Trai­ner­amts­halb­werts­zeit von – sagen wir – ein, zwei, gele­gent­lich viel­leicht auch drei Jahren. Die Zeit, nach der ein Trainer seine Mann­schaft nicht mehr „erreicht“. Und dann ist er weg. Diego Simeone – eine Aus­nah­me­erschei­nung, ver­gli­chen selbst mit dem zweiten großen Lei­den­schaft­li­chen des Welt­fuß­balls, Jürgen Klopp. Und jetzt kommt Xavi Alonso. Mal sehen. Ein Schelm, wer glaubt, dass hinter derlei Lei­den­schaft­lich­keit nichts steckt als pure Lei­den­schaft. Denn das würde bedeu­ten: Abstiegs­ge­fahr!

Ver­las­sen wir das Fuß­ball­feld. Vor allem hinter den Zäunen rand­städ­ti­scher Refu­gi­en mit ihren von gepfleg­tem Idyll umge­be­nen Ein­fa­mi­li­en­häu­sern prä­sen­tiert sich das Leben nicht selten in seiner ele­men­tars­ten Logik. Im Vor­bei­ge­hen gelingt es bis­wei­len, an den großen Fragen des Lebens teil­zu­ha­ben. In diesem Fall waren es zwei neun­mal­klu­ge Bur­schen, mögen sie neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Sie befan­den sich offen­bar mitten in einem phi­lo­so­phi­schen Diskurs. Nur die Aussage des einen drang an mein Ohr: „Ich frage mich, warum man über­haupt einen Rekord auf­stel­len will.“ Ja, warum eigent­lich?

War ich Zeuge der Geburt einer neuen Gene­ra­ti­on gewor­den? Gene­ra­ti­on PP – post Passion. Vernahm ich den Quell­text eines post­lei­den­schaft­li­chen Zeit­al­ters; einer neue Ära der Sach­lich­keit, gespeist aus zurück­ge­lehn­ter Genüg­sam­keit, in der Lei­den­schafts­abs­ti­nenz als Adels­prä­di­kat gilt. Mit der Leit­fra­ge: Bitte, wozu? Sine ira et studio, wie schon Tacitus für sich in Anspruch nahm.

Ein lei­den­schaft­li­cher (Großwild-)Jäger zu sein, bedeu­tet etwas anderes, als den pas­sio­nier­ten Jäger zu geben, oder erklingt die Dif­fe­renz bloß in meinen Ohren? Wohin­ge­gen die Sub­stan­ti­ve „Lei­den­schaft“, „Passion“ und „Hingabe“ weit­ge­hend synonym auf­tre­ten. Ein „pas­sio­nier­ter“ Auto­fah­rer lenkt sein Fahr­zeug geschmei­dig um die Kurve, während ein „lei­den­schaft­li­cher“ Auto­mo­bi­list Tem­po­li­mits ten­den­zi­ell als unbot­mä­ßi­ge Ein­grif­fe in seine per­sön­li­che Frei­heit betrach­tet. Wahre Lenk­lei­den­schaft wird via L17-Tafel (L für Lei­den­schaft!) direkt und unge­fil­tert an die Nach­kom­men wei­ter­ge­ge­ben. Tes­to­ste­ron – das Lei­den­schafts­hor­mon, mitt­ler­wei­le auch über Geschlech­ter­gren­zen hinweg. Doch bei all den feinen Distink­tio­nen in der Bedeu­tung: Haftet der all­ge­gen­wär­ti­gen Lei­den­schaft­lich­keit nicht etwas Grund­be­lie­bi­ges an?

Alles ange­zün­det. Überall lodert, glüht und brennt es – vor Lei­den­schaft. Einst Hobby, Frei­zeit­be­schäf­ti­gung, sport­li­che Betä­ti­gung – nunmehr lodern­de Lei­den­schaft: vom Hoch­see­se­geln bis zum Papier­flie­ger­fal­ten. Und fast noch erstaun­li­cher: Auch die beruf­li­che Pflicht gerät zuse­hends zur lei­den­schaft­li­chen Kür. Osten­ta­ti­ve Lei­den­schaft nicht nur als Mar­ke­ting­tool für die eigenen Zwecke, sondern als Währung der Selbst­ver­ge­wis­se­rung und Selbst­er­mäch­ti­gung im all­ge­gen­wär­ti­gen Wett­be­werb. So begeg­nen wir schon mal jungen Leuten, die sich im Über­schwang der unter­neh­me­ri­schen Gefühle als Entre­pre­neurs und Seri­en­grün­der aus Lei­den­schaft zu erken­nen geben, obwohl sie zum Bei­spiel trotz erfolg­rei­cher Finan­zie­rungs­run­den erst zwei Start-ups in den Sand gesetzt haben, was nach Start-up-Maß­stä­ben noch gar nichts ist; um sich sodann – nach diesen zwei unfrei­wil­li­gen Exits zu lei­den­schaft­li­che Mit­glie­dern der Start-up-Com­mu­ni­ty auf Lebens­zeit selbst­er­nannt – als Grün­dungs­netz­wer­ker (für Busi­ness Angels reicht die Kapi­tal­aus­stat­tung noch nicht) empa­thisch ein­zu­brin­gen und der nächs­ten Gene­ra­ti­on lei­den­schaft­li­cher Start-upper den Weg Rich­tung Exit zu weisen.

Nein, niemand will Ihnen Ihre Lei­den­schaf­ten madig machen; nicht die gehei­men, nicht die obses­si­ven und schon gar nicht die sitt­lich erha­be­nen und erhe­ben­den, nicht die pri­va­ten und auch nicht die, die es Ihnen gestat­ten, lodernd und bren­nend Ihre wert­vol­len Bei­trä­ge zum großen Ganzen in Beruf(ung) und Pri­vat­le­ben zu leisten. Leben Sie Ihre Lei­den­schaft! Worin auch immer sie zum Aus­druck kommen mag. Und umgeben Sie sich mit lei­den­schaft­li­chen Men­schen. Hat nicht der grenz­ge­nia­li­sche Visio­när, Seri­en­grün­der und Mul­ti­mil­li­ar­där Elon Musk fol­gen­den Satz in die Welt gesetzt: „Ein Unter­neh­men ist nur so gut, wie seine Mit­ar­bei­ter und ihre Passion dafür, etwas zu erschaf­fen.“ Seither mil­lio­nen­fach wie­der­ge­ge­ben auf visi­ons­ge­wis­sen Web­sites und Social-Media-Pro­fi­len von Unter­neh­men aller Bran­chen, vor­nehm­lich solchen, die in der Per­so­nal­ver­mitt­lung und im Recrui­ting tätig sind, logisch: Lei­den­schaft.

Lei­den­schaf­ten, wohin das Auge reicht. Alles ist möglich. Die uni­ver­sel­le Lust auf Lei­den­schaft – eine Flamme, die nach Belie­ben brennen und nie ver­lö­schen soll. Nicht erst seit gestern und vor­ges­tern sind die Trenn­li­ni­en zu den grenz­wer­ti­gen, den patho­lo­gi­schen, den Bor­der­line- und Miss­brauchs-Nach­bar­ge­mein­den der Lei­den­schaft aller­dings ver­schwom­men, werden ver­wischt, lassen sich fast nach Belie­ben ver­schie­ben. Der Begriff gibt viel her. Wie weit ist der Weg vom selbst auf­er­leg­ten Dau­er­lei­den­schafts­pos­tu­lat zum Burn-out? Wie stark sind die Front­li­ni­en zum Stock­holm-Syndrom befes­tigt? Wie oft ver­kommt Lei­den­schaft zur Begriffs­hül­le von Sonn­tags­re­den? Wann wird aus Lei­den­schaft Wahn? Und ganz prag­ma­tisch: Steht der Ertrag in einem ange­mes­se­nen Ver­hält­nis zum kol­lek­ti­ven Pos­tu­lat der Hingabe?

Treten wir noch einmal hinter die mul­ti­funk­tio­na­le Fassade einer zur Aller­welt­sat­ti­tü­de „auf­ge­wer­te­ten“ und mitt­ler­wei­le infla­tio­när breit­ge­drück­ten Begriff­lich­keit zurück – zurück zu den Wurzeln des Worts. Passion, Lei­den­schaft, Hingabe. Lassen wir die Begeis­te­rung bei­sei­te. Für sie finden wir an der Wort­wur­zel keine Evidenz. Was bleibt, ist Leiden. Das Affix „-schaft“ bezeich­net in Wort­bil­dun­gen mit Sub­stan­ti­ven eine Sache als Ergeb­nis eines Tuns. Also, ja, wir tun etwas, was (auch) Leiden schafft. Der „toxi­sche“ Anteil der Lei­den­schaft. Das muss man im Spe­zi­el­len schon mögen. Zum Bei­spiel: Unternehmer*in sein. Das ist kein Honig­le­cken; das ist Lei­den­schaft.

 

 

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