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Nur Mut!

„No risk, no fun“, heißt es. Aber just in unserer Spaß­ge­sell­schaft ver­küm­mert die Risi­ko­be­reit­schaft. Das ist nicht nur feig, sondern fad.

Wer ist mutiger? Sie, die trotz rigider Reli­gi­ons­vor­schrift ihre Haare nicht unter einem Schlei­er ver­steckt. Er, der ohne Seil­si­che­rung eine senk­rech­te Fels­wand hin­auf­klet­tert. Die, die in kleinen Schlauch­boo­ten am offenen Meer gegen Wal­fang­flot­ten kämpfen. Jene, die ihr Hei­mat­land gegen einen Aggres­sor ver­tei­di­gen. Du, der/die es schafft, endlich über den eigenen Schat­ten zu sprin­gen. Wir, die wir trotz diver­ser Kan­di­da­ten und Par­tei­en nicht den Glauben an die Demo­kra­tie ver­lie­ren. Mut lässt sich nicht ver­glei­chen.

Auch ein Kramen in Samm­lun­gen und Sto­chern in Erin­ne­run­gen archi­vier­ter Mut-Momente führt zu keinem klaren Ranking. Da ist der unbe­kann­te Mann, der sich nur in Hemd und Hose und mit Akten­ta­sche in der Hand im Juni 1989 einem anrol­len­den Panzer am Tian’anmen-Platz in Peking ent­ge­gen­stellt. Da ist Sophie Scholl, die im Wider­stand gegen das Nazi­re­gime 1943 Flug­zet­tel druckt und ver­teilt, oder Nelson Mandela, dessen unnach­gie­bi­ger Kampf gegen die Apart­heid ihn lange Jahre ins Gefäng­nis brach­ten. Da ist der kleine David, der sich im Alten Tes­ta­ment nicht vor der Kampf­ma­schi­ne Goliath ver­steckt. Da ist Chris­toph Kolum­bus, der 1492 auf­brach, um unbe­kann­te Welten – oder zumin­dest Indien – zu ent­de­cken (und in Amerika landete). Da sind Demons­tran­ten, die seit Jahr­hun­der­ten in Dik­ta­tu­ren gegen Des­po­ten, Dis­kri­mi­nie­rung und andere Deri­va­te der Unter­drü­ckung pro­tes­tie­ren. Da ist das tapfere Schnei­der­lein, das mit wacke­li­gem Herz und mär­chen­haf­ter List durchs Leben „aben­teu­ert“. Mut ist ein Resul­tat situa­ti­ver Risi­ko­be­reit­schaft, manch­mal ein Kind der Wut, manch­mal die Folge von Ärger. Aber ver­glei­chen lässt er sich nicht.

Lässt er sich über­haupt defi­nie­ren? Was ist Mut eigent­lich? Wenn man innere Ver­nunft­schran­ken über­win­det und von einer Fels­klip­pe ins Wasser springt? Durch einen dunklen Wald spa­ziert? Sein wei­nen­des Kind erst­mals im Kin­der­gar­ten zurück­lässt? Den siche­ren Job kündigt? Und was unter­schei­det Mut von Courage? Letz­te­re scheint die zivi­li­sier­te­re Form der Uner­schro­cken­heit zu sein, eine sym­pa­thi­sche­re Art der Beherzt­heit als jene bock­star­ren Rambo-Atti­tü­den, die Mut mit mög­lichst mons­trö­ser Mus­kel­mas­se gleich­set­zen. Courage ist wohl die raf­fi­nier­te­re Form, Schneid zu zeigen, ohne gleich zum Schwert zu greifen. Beides – Mut und Courage – lässt sich jeden­falls nicht kaufen, aber trai­nie­ren. Denn Mut ist wie ein Muskel: Bleibt er unge­nutzt, bildet er sich zurück. Bis nichts mehr davon übrig ist. Aus der bis­wei­len über­trie­be­nen Angst, hin­zu­fal­len, wird so die Unfä­hig­keit zu gehen. „Zu Tode gefürch­tet ist auch gestor­ben“, bilan­ziert der Volks­mund treff­si­cher.

Gerade in schwan­ken­den Zeiten, in denen Unsi­cher­hei­ten und Krisen einen aus der Balance zu kippen drohen, schadet es aber nicht, am Weg nach vorne Zweifel gegen Zuver­sicht zu tau­schen – und sich mehr zu trauen. Und zuzu­trau­en. Dafür müsste man aber manch­mal das sichere Terrain des Wissens ver­las­sen und sich aufs glatte Eis der Wagnis begeben. Das mag nicht jeder. Lieber Voll­kas­ko als volles Risiko. Die Zukunft ist aber grund­sätz­lich kein Grund zur Panik. „Mutig in die neuen Zeiten, (…) arbeits­froh und hoff­nungs­reich“ – diese Hand­lungs­an­lei­tung für ein (be)glückendes Leben steht sogar in der Bun­des­hym­ne, Strophe drei. Blöd halt, dass wir nie so weit kommen, weil wir lieber über große Söhne und Töchter strei­ten. Wohl aus Angst vor der eigenen Courage. Oder weil wir lieber wissen, statt zu wagen.

Beden­ken da, Befürch­tun­gen dort, Brems­fall­schir­me aller­orts. Wie Zwangs­ja­cken hüllen Verlust- und Ver­sa­gens­ängs­te das eigene Ent­fal­tungs­po­ten­zi­al ein. Aber mit schlot­tern­den Knien lässt sich in stür­mi­schen Dis­kus­sio­nen kein Stand­punkt ver­tre­ten, mit zitt­ri­gen Händen keine Chance beim Schopf packen. Ja, es braucht einen gegen­wind­re­sis­ten­ten Glauben an sich selbst. Nein, es braucht nicht erst wirt­schaft­li­che Unab­hän­gig­keit und Frei­heit, um mutig sein zu können. Das würde alle Furcht‑, aber Mit­tel­lo­sen dis­kre­di­tie­ren, die gegen Unrecht auf die Bar­ri­ka­den klet­tern. Aber nein, man braucht umge­kehrt auch nicht Plei­tier zu sein und nichts mehr zu ver­lie­ren zu haben, bis man Kopf und Kragen ris­kie­ren kann.

„Weil’s eh scho’ wurscht is“ oder „du in deiner Posi­ti­on hast leicht reden“: Beide Aus­re­den greifen nicht, weil es bedeu­ten würde, dass Angst- und Zwangs­frei­heit erst gelingt, wenn man zu viel oder nichts mehr hat. Das ist zyni­scher Schrott. Mut ist kein Exklu­siv­auf­trag für Arme oder Super­rei­che. Cou­ra­gier­tes Handeln funk­tio­niert auch im media­nen Wohl­stand. Wenn da nicht diese Bequem­lich­keit wäre, dieses träge Satt­heits­ge­fühl, dieser Nähr­bo­den für eine nach allen Seiten abge­si­cher­te Lan­ge­wei­le. Warum daran etwas ändern? Wofür mutig sein? In unserer Wohl­stands­wohl­fühl­well­ness­ge­sell­schaft braucht es keinen Mut, um zu über­le­ben. Grenzen aus­lo­ten? Dafür gibt es sicher eine absturz­si­che­re App. Zukunft wagen? Der Slogan findet sich auf Wahl­pla­ka­ten, aber selten im eigenen Leben. Sich trauen? Maximal vor dem Stan­des­amt, und dann nur mit der ver­brief­ten Mög­lich­keit zur Schei­dung. Sicher ist sicher.

Was ist da pas­siert? Wann hat sich der Mut aus unserem Alltag ver­flüch­tigt und ist zum Allein­stel­lungs­merk­mal von Extrem­sport­lern gewor­den, die sich in Wingsuits aus Flug­zeu­gen werfen, unge­si­chert über­hän­gen­de Abgrün­de hoch­klet­tern oder mit Skiern senk­rech­te Berg­flan­ken run­ter­fah­ren? Wann ist die Courage aus dem Dasein ver­schwun­den, die einen nicht immer alles gut finden lässt, nur weil es alle gut finden. Die einen Wider­spruch gegen Chefs wagen lässt, einen bei Kon­flik­ten ein­grei­fen statt weg­schau­en lässt, einen bei Unfäl­len helfend zupa­cken statt hilflos hin­star­ren lässt? Mitt­ler­wei­le braucht es sogar zwei Para­gra­fen im Straf­ge­setz­buch, die einen dazu ermah­nen und ver­pflich­ten, im Notfall anzu­pa­cken. Immer­hin drohen beim „Imstich­las­sen“ eines Ver­letz­ten Frei­heits­stra­fen bis zu drei Jahren bezie­hungs­wei­se bis zu einem Jahr, wenn es um „unter­las­se­ne Hil­fe­leis­tung“ geht. Feh­len­de Courage ist also ein Straf­de­likt. Das sagt mehr über den Zustand einer Gesell­schaft aus als jede ver­meint­li­che Mut­pro­be in einem Aben­teu­er­park. Aber Sicher­hei­ten auf­ge­ben und Unsi­cher­hei­ten in Kauf nehmen oder Bewähr­tes infrage zu stellen gehört eben nicht gerade zur Stärke unseres Kul­tur­krei­ses. Im Gegen­teil – auch wenn die Eigen­wahr­neh­mung ganz eine andere ist.

So haben in einer Studie der Max-Planck-For­schungs­ge­sell­schaft, bei der Test­per­so­nen mit einem Betrugs­ver­such kon­fron­tiert wurden, vorab alle ange­ge­ben, sich in einer rele­van­ten Situa­ti­on ein­zu­mi­schen. In der Praxis tat das dann aber maximal ein Viertel. Zudem zeigte sich: Die Men­schen, die von sich sagen, sie würden ent­schie­den ein­grei­fen, sind nicht die Leute, die aktiv werden. Dagegen sind die Men­schen, die tat­säch­lich ein­grei­fen, nicht jene, die sich für beson­ders mutig halten. Diese Dis­kre­panz gründe, sagen Psy­cho­lo­gen, im Unter­schied zwi­schen „affek­ti­vem Mut“, also einem Handeln aus einem plötz­li­chen Impuls heraus, und „ratio­na­lem Mut“, bei dem dem Ein­grei­fen ein nüch­ter­nes Abklä­ren von Für und Wider, Einsatz und Erfolgs­aus­sicht vor­an­geht. Wenn-dann-Kau­sa­li­tä­ten als Kompass für die eigene Kühn­heit: Ob das reicht?

Wie jemand reagiert, hängt aber nicht nur von der jewei­li­gen Situa­ti­on ab, sondern vor allem auch vom Wer­te­ge­rüst, das ab frü­hes­ter Kind­heit ver­mit­telt wird und wie ein Skelett des Cha­rak­ters wirkt und das spätere Leben prägt. Lernt man bereits in jungen Jahren, authen­tisch zu sein, die Wahr­heit zu sagen, Her­aus­for­de­run­gen anzu­neh­men, auch mal schwie­ri­ge Situa­tio­nen durch­zu­hal­ten und diese letzt­end­lich zu bewäl­ti­gen, wirkt sich das auf den Mut aus, sagt die Moti­va­ti­ons­for­sche­rin Michae­la Brohm-Badry, Pro­fes­so­rin für Lern­for­schung und lang­jäh­ri­ge Dekanin des Fach­be­reichs Erzie­hungs- und Bil­dungs­wis­sen­schaf­ten, Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie an der Uni­ver­si­tät Trier.

„Jeder kann zu einem Men­schen werden, der Erfolg will, die Mög­lich­keit des Schei­terns zurück­stellt und sich durch viele Mut­pro­ben solch ein Selbst­be­wusst­sein erwor­ben hat, dass er sagt: „Ich schaffe das“, bestä­tigt Psy­cho­lo­ge Sieg­bert Warwitz. Es gebe aber auch Men­schen, die den Miss­erfolg fürch­ten, die davon aus­ge­hen, zu schei­tern, es nicht zu schaf­fen – die die Gefahr und nicht den Gewinn sehen. „Wie wir werden, ent­schei­den wir mit. Wir tragen beide Anlagen in uns“, so Warwitz. Doch wie viel Mut ist das rich­ti­ge Maß? Hat man zu wenig, ortet man schnell Klein­mut oder gar Feig­heit. Ist man zu forsch, ver­bin­det sich toll­küh­nes Handeln schnell mit Übermut und Hochmut. Dann kann es tat­säch­lich gefähr­lich und destruk­tiv werden. Die Grenze zwi­schen Mut und Dumm­heit ist und bleibt nämlich ein schma­ler Grat. Ob eine Ent­schei­dung mutig oder visio­när ist oder einfach nur schwach­sin­nig, kann fast nie im Moment des Gesche­hens beur­teilt werden, sondern erst wesent­lich später.

Man sollte Mut also mit Durch­hal­te­ver­mö­gen kom­bi­nie­ren, mit Stur­heit und Selbst­ver­trau­en, sein Tun mit ein biss­chen mehr Beses­sen­heit und ein biss­chen weniger Feig­heit gar­nie­ren. Denn Mut und Courage blühen nur dort, wo Angst und Panik ver­wel­ken. Viel­leicht lohnt es sich, sich Erfin­der, Ent­de­cker oder kleine Kinder zum Vorbild zu nehmen. Sie schei­tern oft, ver­ir­ren sich häufig, fallen immer wieder hin. Bis dann der große Durch­bruch, die ulti­ma­ti­ve Inno­va­ti­on oder die ersten Schrit­te gelin­gen. Sie haben Erfolg, weil sie sich nicht ent­mu­ti­gen lassen, nicht auf­ge­ben und wei­ter­ma­chen. Bis es irgend­wann klappt. Den Mutigen gehört die Welt.

Illus­tra­ti­on: Gernot Reiter

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