JUST-Redaktion|

Immer­wäh­ren­der Durst nach dem nie Dage­we­se­nen

Warum eine Gesellschaft Innovationen braucht – und woran das immer wieder scheitert. Eine Spurensuche nach dem Neuen zwischen Energydrinks, fallenden Äpfeln und gepanschtem Wein.
Illustration: Gernot Reiter

Wie kommt das Neue in die Welt? Eine viel­stra­pa­zier­te Frage. Das all­ge­gen­wär­ti­ge Ant­wort­in­ven­tar erschöpft sich in par­ti­el­len Defi­ni­ti­ons­ver­su­chen, seman­ti­schen Annä­he­run­gen, halb­hel­len Aspekt­be­leuch­tun­gen. Die umfas­sen­de Erklä­rung, wie eine Inno­va­ti­on – also jenes Neue, das eine posi­ti­ve Ver­än­de­rung ver­spricht – den Weg in die Wirk­lich­keit findet, gibt es aber nicht.

Die mensch­li­che Schaf­fens­kraft ist dies­be­züg­lich auf zu ver­schlun­ge­nen Pfaden unter­wegs, um gerad­li­ni­ge Nar­ra­ti­ve zuzu­las­sen. Zu viele unvor­her­seh­ba­re Zufälle, Regel- und Tabu­brü­che beglei­ten einen Krea­tiv­pro­zess, bis daraus etwas Inno­va­ti­ves ent­steht. Zu viele Irrun­gen und Wir­run­gen werden durch den Glanz und das Gewinn­ver­spre­chen der wenigen Ideen zuge­deckt, die tat­säch­lich Game­ch­an­ger-Qua­li­tä­ten haben. Denn Inno­va­ti­on ist stets eine Wette auf zukünf­ti­ges Nut­zer­ver­hal­ten und deshalb immer riskant. Die meisten Inno­va­ti­ons­ver­su­che schei­tern daher. Sie schaf­fen keine Brücke zwi­schen den Par­al­lel­wel­ten des wohl­be­kann­ten Heute und des unbe­kann­ten Morgen.

Abge­se­hen davon: Wie viel tat­säch­lich Neues steckt im Neuen wirk­lich? Denn streng – also beim Namen – genom­men, ist auch eine Inno­va­ti­on nur ein Mix aus bereits bestehen­den Zutaten. Alter Wein in neuen Schläu­chen? Das latei­ni­sche Verb „inno­va­re“ bedeu­tet ja „nur“ erneu­ern, nicht erfin­den. Gepansch­ter Wein noch dazu?

Weiter bringt einen nur ein Abschied von der apo­dik­ti­schen Wort­klau­be­rei. Denn auch eine Collage aus exis­tie­ren­den Ein­zel­tei­len kann einen eigen­stän­di­gen Cha­rak­ter ent­wi­ckeln. Jeder Cock­tail in einer Bar beweist das. So bleibt die Inno­va­ti­on ein Vorgang, der durch Anwen­dung neuer Ver­fah­ren, die Ein­füh­rung neuer Tech­ni­ken oder der Eta­blie­rung erfolg­rei­cher Ideen einen Bereich, ein Produkt, einen Prozess oder eine Dienst­leis­tung erneu­ert, erschafft oder zumin­dest auf den neu­es­ten Stand bringt.

Wir brau­chen das. Unsere Gesell­schaft braucht das. „Wir setzen auf neue Tech­no­lo­gien, um Mobi­li­tät und gesell­schaft­li­chen Wandel ange­sichts der Her­aus­for­de­run­gen des Kli­ma­wan­dels zu bewäl­ti­gen; wir erpro­ben neue Formen der Acht­sam­keit und des Umgangs mit uns selbst, um viel­fäl­ti­gen psy­chi­schen Belas­tun­gen spät­mo­der­ner Gesell­schaf­ten, wie Burnout, Depres­si­on oder Ein­sam­keit zu begeg­nen. Wir hoffen auf neue, krea­ti­ve poli­ti­sche Lösun­gen, um drän­gen­de Pro­ble­me und andau­ern­de Kon­flik­te zu lösen oder doch min­des­tens zu ent­schär­fen. Und wir suchen, ob bei der Arbeit oder in der Frei­zeit, beim Konsum, auf Reisen, in den Sozia­len Medien oder im Museum vor allem nach dem Neuen, dem Sin­gu­lä­ren und Beson­de­ren“, liefert die Thea­ter­wis­sen­schaft­le­rin Doris Kolesch eine präzise Beschrei­bung dieser Sucht nach dem Neuem, diesem Hunger nach dem Unbe­kann­ten.

Wir streben im avant­gar­dis­ti­schen Sinn nach Räumen, die noch nicht began­gen sind, nach Lösun­gen, die davor noch nie gefun­den wurden, nach Pro­duk­ten, die unsere Bedürf­nis­se auf neue Art stillen – oder es schaf­fen, unsere Wünsche nicht nur zu wecken, sondern sogar neue Begehr­lich­kei­ten zu schaf­fen. Wie das heut­zu­ta­ge funk­tio­niert? Wenn die Inno­va­ti­on mit ent­spre­chen­den Glücks­ver­spre­chen ver­mark­tet wird – dem Wachsen von Flügeln bei­spiels­wei­se. 1984 Jahre seit Christi Geburt und noch ein paar Jahr­tau­sen­de mensch­li­cher Urge­schich­te davor, hat es der Homo sapiens eigent­lich recht locker geschafft, ohne Ener­gy­drinks zu über­le­ben. Heute gilt ein syn­the­ti­scher Saft aus einer Aludose als Vade­me­cum. Allein 2022 wurden welt­weit 11,582 Mil­li­ar­den Dosen Red Bull ver­kauft, ein Plus von 18 Prozent gegen­über 2021. Ver­rückt!

Erklär­bar ist das auch mit einer Neben­wir­kung von gelun­ge­nen Inno­va­tio­nen, für die gerade unsere Kon­sum­ge­sell­schaft anfäl­lig ist: eine in Kauf­im­pul­se umge­lei­te­te Neugier, die von hoch­ef­fi­zi­en­ten Mar­ke­ting­stra­te­gien gna­den­los auf­be­rei­tet und aus­ge­schlach­tet wird. So wird es möglich, dass wir (uns) Sachen (ver)kaufen, von denen man uns erst erklä­ren muss, wozu sie eigent­lich zu gebrau­chen sind bezie­hungs­wei­se was sie an Mehr­wert bringen. Für bestimm­te Genuss­ar­ti­kel, neue Maschi­nen, digi­ta­le Tech­no­lo­gien etc. müssen die Nutzer erst ent­spre­chend vor­be­rei­tet, also inno­va­ti­ons­be­reit gemacht werden. Von daher müsste man die Frage, wie Neues in die Welt kommt, umfor­mu­lie­ren: Wie sind Welt und Mensch mit dem bereits exis­tie­ren­den Neuen kom­pa­ti­bel?

Manch­mal sind sie es gar nicht. So lassen die in immer kür­ze­ren Zeit­ab­stän­den auf­ein­an­der­fol­gen­den Krisen, die sich poten­zie­ren­den Risiken unserer Wirt­schafts- und Lebens­wei­se eine Reihe von Ver­dachts­mo­men­ten auf­kom­men: Ist das Neue viel­leicht nicht immer zwangs­läu­fig das Bessere, viel­leicht ist diese Gleich­set­zung nur Blend­werk? Braucht es die Krise als abge­mil­der­te Form der Kata­stro­phe, um Erneue­rungs­pro­zes­se in Gang zu setzen? Wie viel Fest­hal­ten am Rhyth­mus von vor­ge­ge­be­ner Ordnung, festem Regel­werk und fixier­ter Metho­dik ver­trägt die Grund­me­lo­die der Hyper­mo­der­ne? Wie viel Krea­ti­vi­tät als Motor gesell­schaft­li­chen Wandels, künst­le­ri­scher Inno­va­ti­on und wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­fort­schritts sind noch gesund? Ab wann wird Inno­va­ti­on toxisch?

Grund­sätz­lich ist die Ver­ses­sen­heit nach dem nie Dage­we­se­nen frei­lich eine Wurzel des Fort­schritts unserer Opti­mie­rungs­ge­sell­schaft. In ihr herrscht ein Impe­ra­tiv der Beschleu­ni­gung, ein steter Versuch, Neues zu erschaf­fen. Überall werden Inno­va­tio­nen ein­ge­mahnt, Initia­ti­ven gegrün­det, Pro­gram­me gestar­tet, die Zukunfts­fä­hig­keit garan­tie­ren sollen. Das ent­facht eine Inno­va­ti­ons­dy­na­mik, die die Moderne aus­zeich­net, sie aber gleich­zei­tig fast an sich selbst schei­tern lässt. Denn Inno­va­ti­on ist ein zähes Unter­fan­gen, die erwünsch­ten, erwar­te­tet oder erhoff­ten Ver­än­de­run­gen gibt es nicht zum Null­ta­rif.

Inno­va­ti­on bedeu­tet viel­mehr die Bereit­schaft zu bestän­di­ger Infra­ge­stel­lung und zum Expe­ri­ment. Das heißt auch, die For­de­rung nach Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät und Krea­ti­vi­tät ernst zu nehmen und den Mut zum Irrtum zu haben. Wenn sich etwas ändern soll, kann nicht zugleich alles bleiben, wie es immer war. Wer Inno­va­ti­on wirk­lich will, darf die Revo­lu­ti­on nicht scheuen. Cha­os­ver­mei­dung? In Zeiten epo­cha­ler Umbrü­che ein aus­sichts­lo­ses Unter­fan­gen. Wir bewoh­nen heute nämlich par­al­lel eine Viel­zahl von Rea­li­tä­ten, die zuneh­mend den Kontakt zuein­an­der ver­lie­ren. Wir leben im digi­ta­len Zeit­al­ter, sind aber struk­tu­rell und gedank­lich viel­fach noch gefan­gen im Indus­trie­zeit­al­ter. Wir bewäs­sern mit Sub­ven­ti­ons­gieß­kan­nen abge­wirt­schaf­te­te Felder, während vie­ler­orts die Inno­va­ti­ons­keim­lin­ge ver­durs­ten. Wir bestrei­ten einen von Ver­un­si­che­rung, Skepsis, Angst und Pes­si­mis­mus gepräg­ten Alltag, der statt­des­sen Begeis­te­rung, Lei­den­schaft, Aus­dau­er und Zuver­sicht bräuch­te. Auch und gerade für das Neue.

Zwar soll Isaac Newton die Idee zu seinen bahn­bre­chen­den Fall­ge­set­zen gekom­men sein, als er unter einem Baum lag und den Äpfeln beim Her­un­ter­fal­len zusah. Für gewöhn­lich kommen Inno­va­tio­nen aber nicht wie der Blitz in die Welt. Es braucht das pas­sen­de Klima im Brut­kas­ten, aber auch später, beim Her­an­wach­sen der Ideen zu erfolg­rei­chen Geschäfts­mo­del­len. Was dabei hilft, ist ein unver­rück­ba­rer Fokus auf den Nutzer und seine tat­säch­li­chen Pro­ble­me, Bedürf­nis­se und Wünsche. Es ist nämlich ein großes Miss­ver­ständ­nis, die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on für tech­no­lo­gie­ge­trie­ben zu halten. Die Tech­no­lo­gie ist wichtig, ja, aber sie ist nicht der Aus­gangs­punkt. In erster Linie gehe es laut Apple-Gründer Steve Jobs um die Nut­zer­er­fah­rung, von der aus­ge­hend rück­wärts bis zur Tech­no­lo­gie gear­bei­tet werden muss. Nur so schafft man nach­hal­ti­gen Mehr­wert.

Die rasante Ent­wick­lung in Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Com­pu­ter­tech­no­lo­gie bietet eine Blau­pau­se für die Bipo­la­ri­tät dieses Fort­schritts. Einer­seits zeigt die Netz­wer­k­öko­no­mie den unmit­tel­ba­ren Nutzen erfolg­rei­cher Inno­va­ti­on im digi­ta­len Zeit­al­ter, indem sie sys­te­mi­schen Wert schafft. Als Leit­for­mel gilt das Met­cal­fe­sche Gesetz, wonach sich der Nutz­wert ins­be­son­de­re sozia­ler Netz­wer­ke im Ver­gleich zur Anzahl seiner Benut­zer ver­dop­pelt, während die Kosten nur linear zur Teil­neh­mer­zahl steigen. Das ist ertrag­rei­cher Humus.

Ande­rer­seits geht die durch die Inno­va­ti­on möglich gewor­de­ne Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on ver­schwen­de­risch mit der Auf­merk­sam­keit ihrer Nutzer um. Zugleich Ideal und Schre­ckens­vi­si­on dieses Phä­no­mens scheint die Zeit­raf­fer­rei­se zu sein: Mit fort­wäh­rend wach­sen­der Geschwin­dig­keit rast man an den Dingen vorbei, bestaunt das stich­flam­men­ar­tig ent­ste­hen­de Neue im Sekun­den­takt und kann es doch niemals fassen. Ein inno­va­ti­ver Rahmen als Durch­lauf­er­hit­zer für Info-Fast-Food ohne sät­ti­gen­den Nähr­wert. Neues kommt so zwar am Fließ­band in die Welt, ohne sie aber zu inno­vie­ren. Schade eigent­lich.

„Wo ist das Wissen, das wir durch die Infor­ma­ti­on ver­lo­ren haben?“, fragte der bri­ti­sche Dichter T. S. Eliot besorgt. Das war 1934. Ob wir 90 Jahre später eine Antwort finden? Es wäre eine echte Inno­va­ti­on.

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