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Friede, Freude, Kriegs­er­klä­rung

Friede ist mehr als die Abwe­sen­heit von Gewalt und die Anwe­sen­heit eines Yoga­leh­rers. Für den Ein­zel­nen wie auch für eine Gemein­schaft bleibt es ein viel­schich­ti­ger Versuch, Zu-FRIEDEN-heit zu finden.

Zumin­dest eines ist klar: So kann es nicht wei­ter­ge­hen! Kra­wal­le, Pro­tes­te, Unruhen und jetzt auch noch ein hand­fes­ter Krieg haben in den letzten Jahren ein zuneh­mend düs­te­res Bild unserer Welt geprägt. Es ist aber nicht nur die Anwe­sen­heit von Gezank und Gewalt, die ver­stört. Auch das Auf­blü­hen von Inte­gra­ti­ons­pro­ble­men, das Ero­die­ren der Mit­tel­schicht, die Expan­si­on einer wild in alle Rich­tun­gen expan­die­ren­den Des­ori­en­tie­rung und der wuchern­de Moral­ver­lust in allen sozia­len Schich­ten befeu­ern die Abkehr vom „Friede, Freude, Eierkuchen“-Ideal.

„Kri­mi­nel­le Manager, die auf Staats­kos­ten Mil­li­ar­den ver­zo­cken und Mil­lio­nen­ab­fin­dun­gen bekom­men, Klein­be­trü­ge­rei­en bei der Steu­er­erklä­rung, tag­täg­li­che Ego­is­men im Stra­ßen­ver­kehr“, liefert der deut­sche Phi­lo­soph Richard David Precht Bei­spie­le für den Sit­ten­ver­fall im Alltag. Was nach Aktua­li­tät klingt, ist zwölf Jahre alt. Von wegen „früher war alles besser“. Damit wackeln sämt­li­che Stütz­pfei­ler eines Frie­dens im ganz­heit­li­chen Sinn. Wobei: So richtig fest waren die noch nie ins Fun­da­ment der mensch­li­chen Gesell­schaft gerammt.

Viel­leicht ist das mit dem Pazi­fis­mus ohnehin ein his­to­ri­scher Irrtum. Gewagte These. Aber man würde pro­mi­nen­te Kron­zeu­gen finden. „Denkt nicht, ich sei gekom­men, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekom­men, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Vielen würde man diese Kampf­pa­ro­le wohl zuschrei­ben. Dass sie sich im Mat­thä­us-Evan­ge­li­um als Zitat von Jesus wie­der­fin­det, über­rascht dann doch eini­ger­ma­ßen. Das Dis­har­mo­ni­sche ver­stört, über­rascht, regt zum Nach­den­ken und zur Inter­pre­ta­ti­on an. Durch die para­do­xe Inter­ven­ti­on könne „eine Bereit­schafft zur Dekon­struk­ti­on erzeugt werden, eine Ermu­ti­gung, die Fiktion unserer har­mo­ni­schen Wirk­lich­keit auf­zu­ge­ben“, ver­sucht es bei­spiels­wei­se der Psy­cho­the­ra­peut Michael Lehofer.

Krieg also um des – ohnehin nur ima­gi­nier­ten – Frie­dens Willen? „Si vis pacem, para bellum”: „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“, wussten schon die alten Römer. Zwei­tau­send Jahre später hielt ein gewis­ser John Lennon dem bel­li­zis­ti­schen Motto einen frie­dens­be­weg­ten Kon­tra­punkt ent­ge­gen. „Imagine all the people, livin’ life in peace“, sang er erst­mals vor exakt 51 Jahren, im Sep­tem­ber 1971. Schon damals wusste er aber um die hohe Wahr­schein­lich­keit der Aus­sichts­lo­sig­keit dieses Gedan­kens: „You may say I’m a dreamer …“

Ande­rer­seits: Träumen wird man ja wohl noch dürfen. Dieser zivi­li­sa­to­ri­sche Impuls ist Gesell­schaf­ten west­li­chen Zuschnitts sys­tem­im­ma­nent imple­men­tiert. Kein Schaden. Denn solche Träume helfen bei den Ver­su­chen die Mensch­heit zu ver­bes­sern und sie trösten, damit man nicht voll­ends an der Wirk­lich­keit ver­zwei­felt. Anlässe böten sich zur Genüge. Kon­flik­te lodern aller­orts. Das Blöde dabei: Die Front­li­ni­en ver­än­dern sich zum Teil rascher als H&M seine Fast — Fashion-Kol­lek­tio­nen tauscht. Damit wird es reich­lich unüber­sicht­lich.

Gut – oder besser – gar nicht gut: Es gibt sie noch, die Kriege alten Zuschnitts, wo der klar defi­nier­te Feind jen­seits einer Grenze sitzt, sei es eine poli­ti­sche, eine geo­gra­fi­sche, eine reli­giö­se oder eth­ni­sche. Nicht weniger gefähr­lich sind aber die Bruch­li­ni­en, die sich durch durch­misch­te Milieus schlän­geln wie eine Kreuz­ot­ter durch eine zer­klüf­te­te Karst­land­schaft. Da schlei­chen sich dann schnell neue Kampf­be­grif­fe ein, die wie Stan­dar­ten durch die Schlacht der Argu­men­te getra­gen werden. „Moral“ ist so ein Wort, „Werte“ ein anderes. Mit „Feminismus“-Fahnen könnte man auch winken und umge­hend „Mansplaining“-Plakate ent­ge­gen­ge­fuch­telt bekom­men.

Viele dieser Tugen­den sind Grund­zu­ta­ten eines all­um­fas­sen­den sozia­len Frie­dens, einige auch Soll­bruch­stel­len. Manche sind mitt­ler­wei­le von der tiefer wer­den­den Schlucht zwi­schen Arm und Reich bereits ver­schluckt worden. Eine Gesell­schaft am Abgrund? Zumin­dest werden sich Milieus ohne Tugen­den aus­brei­ten. „Eure Werte, euer sozia­ler Friede und eure Moral sind uns scheiß­egal!“ – dieser rüde Protest füttert poli­ti­sche Ränder, radi­ka­li­siert das gesell­schaft­li­che Klima, zer­stört den sozia­len Frieden.

Der­ar­ti­ge den gesell­schaft­li­chen Boden unter­spü­len­de Ent­wick­lun­gen waren in den ver­gan­ge­nen Jahren in vielen EU-Staaten zu beob­ach­ten. Es handelt sich dabei sowohl um kurz­fris­tig auf­tau­chen­de Phä­no­me­ne wie etwa Aus­schrei­tun­gen in ver­schie­de­nen euro­päi­schen Groß­städ­ten als auch um mittel- und lang­fris­ti­ge Ten­den­zen wie die stei­gen­de Poli­tik­ver­dros­sen­heit, wach­sen­de Arbeits­lo­sig­keit oder demo­gra­fi­sche Ent­wick­lun­gen, die eine hohe Dynamik auf­wei­sen. So sprach der dama­li­ge bri­ti­sche Pre­mier­mi­nis­ter David Cameron im Kontext der Kra­wal­le im August 2011 in England von einer „kaput­ten Gesell­schaft“. Wie lässt sie sich repa­rie­ren?

Man könnte es wieder in der Lied­werk­statt von John Lennon ver­su­chen: „Imagine all the people, sharing all the world.“ Ein biss­chen mehr „Wir“, ein biss­chen weniger „Ich“ – das sollte am Ende nicht nur den gesell­schaft­li­chen Frieden sta­bi­li­sie­ren, sondern auch zu mehr innerem Frieden führen. Eine Vision? „You may say, I’m a dreamer …“ Viel­leicht. Aber schaden würde eine beru­hig­te See­len­land­schaft in auf­ge­wühl­ten Zeiten wie diesen jeden­falls nicht. Die Rezepte, die dafür ange­bo­ten werden, sind bunt, die Band­brei­te der Autoren reicht von Reli­gi­ons­grün­dern bis zu Yoga­leh­rern, von Psy­cho­lo­gen bis zu Dro­gen­dea­lern.
Schnell lässt sich an diesem Punkt die Gesell­schafts­kri­tik Rich­tung zukunfts­ver­ges­se­nem Mate­ria­lis­mus und gegen­warts­ver­lieb­tem Ego­zen­tris­mus lenken. Die Wirt­schaft benö­ti­ge schließ­lich einen ego­is­ti­schen Hedo­nis­ten und uner­sätt­li­chen Kon­su­men­ten, der nie zufrie­den und dis­zi­plin­los ist in seiner Gier nach mehr, seziert der ame­ri­ka­ni­sche Sozio­lo­ge Daniel Bell das System. Es ist das Wer­te­di­lem­ma west­li­cher Gesell­schaf­ten, denn zur Siche­rung des inneren Zusam­men­halts brauch­ten sie gleich­zei­tig einen beschei­de­nen Mit­bür­ger, hilfs­be­reit und zufrie­den.

Dieser Spagat wird zur inneren Zer­reiß­pro­be. Und geht sich irgend­wann nicht mehr ohne Kon­flikt aus. Denn je zweck­ra­tio­na­ler die Men­schen ihren Nutzen kal­ku­lie­ren, umso unge­sün­der wird das gesell­schaft­li­che Klima. Zunächst werden die Moral­re­ser­ven ver­braucht, später kracht es irgend­wann. Frieden, adieu! Erster Ver­wun­de­ter in der­ar­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen ist der Gemein­schafts­sinn vulgo Soli­da­ri­tät. Es ist das Ergeb­nis des ewigen Kon­flikts zwi­schen Libe­ra­lis­mus und Demo­kra­tie. Denn während die Idee des Libe­ra­lis­mus der indi­vi­du­el­len Frei­heit ver­pflich­tet ist, basiert die Idee der Demo­kra­tie auf einer weit­rei­chen­den Gleich­heit. Hier eine Balance zu finden, wird zuneh­mend schwie­rig.

„Eine Zeit lang hatte die Demo­kra­tie eine Aura des Unaus­weich­li­chen“, schrieb die frühere US-Außen­mi­nis­te­rin Made­lei­ne Alb­right vor über einem Jahr­zehnt. „Das ist vorbei“, kon­sta­tier­te sie schon damals. Die Welt stehe nicht mehr in der Aus­ein­an­der­set­zung von Kom­mu­nis­mus und Kapi­ta­lis­mus, „sondern zwi­schen Demo­kra­tie und Auto­kra­tie“. Im Spiegel der aktu­el­len Ereig­nis­se hat das etwas beängs­ti­gend Pro­phe­ti­sches. Die Demo­kra­tie scheint zuneh­mend im Stich gelas­sen zu werden, was nicht zuletzt die abstür­zen­den Wahl­be­tei­li­gun­gen bezeu­gen. Wenn das so wei­ter­geht, wird die Demo­kra­tie – und damit eine Frie­dens­ga­ran­tie – all­mäh­lich ver­küm­mern.

So kon­ser­viert sich der ewige Kampf für Gerech­tig­keit und gegen die Gleich­gül­tig­keit als Übung mit schma­len Erfolgs­aus­sich­ten. Damit bleibt auch das Streben, Frieden zu finden – mit der Außen­welt, seinen Wert­vor­stel­lun­gen und sich selbst – eine der grö­ße­ren Her­aus­for­de­run­gen im Leben. Die Gefahr, sich in seinem eigenen Ver­hal­tens­la­by­rinth zu ver­ir­ren, wird nämlich immer größer. „Wir sind zu gut infor­miert, um uns noch zu klaren Welt­an­schau­un­gen zu beken­nen, zu liberal, um Wer­te­hier­ar­chien zu for­mu­lie­ren, zu kon­sum­ori­en­tiert, um Beschei­den­heit zu pre­di­gen“, so Phi­lo­soph Richard David Precht.

„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, bringt es Bertolt Brecht in seine „Drei­gro­schen­oper“ auf den Punkt. Dass das eher aus­ein­an­der­di­vi­diert als zusam­men­schweißt, dafür braucht es kein Psy­cho­lo­gie­stu­di­um. Die Lust auf Bindung statt Ver­ein­ze­lung als ein wesent­li­ches Fun­da­ment für gesell­schaft­li­chen Frieden, schmilzt. Sport­ver­ei­ne, Kirchen, Gewerk­schaf­ten merken das, auch Par­tei­en. Statt­des­sen gibt es eine Pro­jekt­ment­a­li­tät. Man enga­giert sich durch­aus, möchte das aber nur für eine gewisse Zeit tun, dann ein neues Aben­teu­er begin­nen. Lang­fris­ti­ges passt nicht in einen der­ar­ti­gen Lebens­ent­wurf. Damit wird auch Zu-Frieden-heit zu einem flüch­ti­gen see­li­schen Aggre­gat­zu­stand. Viel­leicht lässt sich damit die zuneh­men­de Brü­chig­keit des Frie­dens erklä­ren.

Überall Kon­flik­te mit dem Arbeit­ge­ber, Krisen mit dem Partner, Kriege mit irgend­ei­nem Feind. Da bleibt wenig Platz für Frieden. Als Not­aus­gang vor dem depres­si­ven Jam­mer­tal könnte man ver­su­chen, der Nacht ein wenig Sonne abzu­trot­zen. Denn Kriege haben im Schat­ten ihres Zer­stö­rungs­fu­rors immer auch als Fort­schritts­trei­ber funk­tio­niert. Meist frei­lich zu einem viel zu hohen Preis. Aber eine Gesell­schaft, will sie kri­sen­fest sein und Frieden stiften können, braucht auch eine gewisse Kon­flikt­fä­hig­keit. Strei­ten, aber richtig – das müsste man können.

Men­schen dagegen, die sich durch eine aus­ge­spro­che­ne Har­mo­nie­be­dürf­tig­keit aus­zeich­nen, stiften in ver­schie­dens­ten Situa­tio­nen gerade dadurch Unfrie­den. Es ist die span­nungs­ge­la­de­ne Dia­lek­tik des Frie­dens, Drogen nicht ganz unähn­lich: Ein Über­do­sis Glücks­hun­ger kann ins Unglück führen. „Allen Men­schen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann“, lehr­meis­tert dies­be­züg­lich ein altes Sprich­wort. Ein Dilemma? Viel­leicht. Aber eines bleibt klar: So kann es nicht wei­ter­ge­hen!

llus­tra­ti­on: Gernot Reiter

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