Es gibt Tage, da glaubt man an das Schicksal. Nicht aus Aberglauben, sondern weil die Wirklichkeit sich zu pointiert inszeniert, um Zufall zu sein. Etwa, wenn man in letzter Minute in die U‑Bahn springt – und sich ausgerechnet neben jene Person gesetzt findet, der man seit Jahren erfolgreich aus dem Weg ging. Oder wenn ein längst verdrängter Gedanke plötzlich auf der Litfaßsäule steht, als hätte das Universum einen Redakteur. Offenbar besitzt es einen Sinn für Ironie – irgendwo zwischen Kafka und Karl Valentin, aber ohne Absprache mit uns.
Vielleicht hat die Menschheit das Schicksal erfunden, weil „Pech gehabt“ als Erklärung zu banal war. Also bekamen wir: Götter, Horoskope, Algorithmen – und heute: Manifestation. Ein Konzept, das verspricht, dass der Wille allein genügt – und oft doch nur bis zur nächsten Tasse mit dem Aufdruck „Trust the process“ reicht. Immerhin: Manifestation funktioniert. Zumindest für jene, die Notizbücher mit goldgeprägten Affirmationen verkaufen.
Zwischen Bestimmung und Betriebsanleitung
„Jeder ist seines Glückes Schmied“, sagte man früher. Heute hätte man den Schmied gern als App, bitte mit Cloud-Sicherung. Doch wer versucht hat, vom einen auf den anderen Mobiltelefonhersteller zu wechseln, weiß: Das Schicksal ist nichts gegen die Tücke der Datenmigration.
Das moderne Schicksal ist nicht mehr tragisch, sondern vor allem schlecht designt. Es kommt als Push-Nachricht, gelegentlich als Bugfix – aber nie zur rechten Zeit. Wir personalisieren unsere Kaffeemaschinen, aber akzeptieren geopolitische Entwicklungen als höhere Fügung.
Das Leben: ein Drama ohne Generalprobe
Wir glauben, unser Leben sei wie eine gute Serie: durchdacht, mit rotem Faden. Tatsächlich ist es eher ein absurdes Theaterprojekt – Regie: ein betrunkener Ionesco. Die Bühne wackelt, die Nebenrollen proben nie, und irgendwann stellt man fest: Das ist kein Stück. Das bin ich.
Wie passend, dass die Salzburger Festspiele 2025 sich unter dem Motto „Fatum – Schicksal“ genau diesem Widerspruch widmen. Auf den Bühnen wird gestorben, gelitten, gehofft – aber immer mit Stil. Und mit dem Bewusstsein, dass auch das größte Drama meist mit einer kleinen, menschlichen Entscheidung beginnt.
Händels „Giulio Cesare“, Verdis „Macbeth“ – Geschichten von Macht, Ohnmacht und jener tragischen Sehnsucht, sein eigenes Drehbuch zu schreiben. Vielleicht sind wir deshalb so fasziniert: Weil wir dort für einen Moment glauben dürfen, es gäbe so etwas wie einen Plan.
Die ewige Rückkehr des Menschlichen
Man sollte meinen, wir hätten dazugelernt. Zwei Weltkriege, mehrere Finanzkrisen, ein paar Pandemien – das müsste doch reichen. Aber nein: Noch immer glauben wir, der Mensch sei rational, berechenbar, planbar. Dabei scheitert er am Wahlomat und manifestiert sich ins nächste Burnout.
Wir bauen KI, die Shakespeare imitieren kann, aber stolpern über den Ton im Gruppenchat. Wir träumen von Marskolonien, scheitern aber am Recyclingmüll. Vielleicht ist das Schicksal kein Gegner – sondern ein Korrektiv. Eine Art kosmischer Hinweis: „Du bist nicht allein. Aber du bist auch nicht alles.“
Zufall als letzter Punkt im System
In den besseren Cafés kann man zwischen 17 Milchsorten wählen – aber nicht zwischen Monolog und echtem Dialog. Wir haben 37 Bezahlmethoden, aber keine Garantie für Sinn. Wir optimieren unsere Lebensläufe, doch das Leben selbst bleibt sperrig. Und während wir Delivery-Zeiten und Risikostufen berechnen, lacht der Zufall – der letzte Punk im Business-Casual-Universum.
Vielleicht liegt in ihm die letzte Form der Hoffnung. Die ungeplante Begegnung. Der unpassende Moment. Der Fehler, der plötzlich Richtung bekommt. Wie sagte einst Karl Farkas: „Zufall ist das, was einem passiert, wenn man gar nicht damit rechnet.“
Selbstoptimierung bis zur Sinnkrise
Wir reden viel von Resilienz, meinen aber oft nur Verdrängung mit Stil. Wer heute scheitert, hat eben falsch visualisiert. Wer leidet, war nicht genug im Flow. Und wer keine Glücksgefühle empfindet, sollte vielleicht sein Abo-Modell wechseln. Wir optimieren uns zu Tode – und merken zu spät: Vielleicht war das Schicksal gar nicht unser Feind, sondern unser einziger Verbündeter gegen den Zwang zur Selbststeuerung. Was aber, wenn wir gar nicht alles im Griff haben sollen? Wenn es nicht um Kontrolle geht, sondern um Vertrauen? Vielleicht ist Schicksal nicht die Einschränkung unserer Freiheit – sondern ihre poetische Begleitmusik.
Vom Reiz des Unverfügbaren
Vielleicht liegt die Tragik unserer Zeit gar nicht im Schicksal – sondern in seinem Fehlen. Alles ist verfügbar: Wissen, Trost, sogar Erleuchtung gibt es auf Bestellung. Nur das Wunder ist verdächtig geworden. In einer Welt, in der die Spülmaschine weiß, wann wir nach Hause kommen, stört das Staunen den Workflow. Dabei war es gerade das Unverfügbare, das uns zu Menschen machte. Die Gnade des Moments. Die Überraschung des Anderen. Vielleicht liegt genau hier die tiefere Verbindung zu den Festspielen – dieser Moment der Irritation, des Unerklärlichen, der widersprochenen Erwartungshaltung.
Komödie mit Applaus aus dem Off
Schicksal, das klingt oft nach Schwere. Nach Fallhöhe. Nach antiker Tragödie mit Pause und anschließendem Publikumsgespräch. Doch das Leben ist mehr als sein Ernst. Es ist auch ein Komödiant. Einer, der uns manchmal auf die Bühne schubst, obwohl wir nur Statisten sein wollten. Und das mit einem Blumenstrauß aus Missverständnissen in der Hand.
Zwischen Maßhalten und Machthunger
Und dann, wenn es duftet nach frisch gemähtem Gras, wenn der Wind ein Lied summt, das kein Algorithmus kennt – dann weiß man: Das Leben ist mehr als Plan. Mehr als Kontrolle. Mehr als Manifestation.
Dann sitzen wir vielleicht unter einem Baum, mit einem Menschen, den wir nicht gegoogelt haben, und sagen einfach nur: „Ja. So ist es gut.“ Wir denken zurück: Der Mensch hat vieles gelernt – Sprachen, Systeme, sogar sich selbst zu optimieren. Aber er hat noch immer nicht verstanden, dass Macht nicht das Ziel sein darf, sondern bestenfalls ein Werkzeug. Vielleicht beginnt das neue Zeitalter nicht mit einem Knall, sondern mit einem einfachen Gedanken: Weniger wäre genug.
Vielleicht ist es auch ein Zeitalter, in dem wir wieder lernen, zu unterscheiden. Zwischen dem, was technisch möglich ist – und dem, was menschlich sinnvoll. Zwischen Fortschritt und Überforderung. Zwischen Reiz und Wert. Wir müssen Technologie nicht verteufeln – aber wir dürfen sie hinterfragen. Und wir sollten lernen, das Gute in ihr zu sehen, ohne das Wahre aus den Augen zu verlieren.Und doch: Wir sind keine Zyniker. Wir glauben an das Gute, auch wenn es sich manchmal gut versteckt. Wir glauben an eine Welt, in der Vernunft und Hoffnung kein Widerspruch sind. Und wir wissen: Nur wer an das Gute glaubt, kann es auch möglich machen.Oder wir stehen auf einem der Plätze dieser Stadt, auf der Suche nach einer Idee, einem Gespräch, einem Augenblick. Und plötzlich ist da: Musik. Vielleicht Mozarts „Requiem“ aus einem offenen Fenster. Vielleicht ein Straßenmusiker, der keine Schule besucht, aber das Leben spielt. Und dann spüren wir: Etwas hat sich bewegt. Ohne dass wir es bestellt haben. Und wir merken: Schicksal ist auch das, was uns findet, wenn wir gerade nicht auf Empfang geschaltet sind. Es klopft nicht an die Tür, es pfeift durch die Gassen. Manchmal ganz leise. Und manchmal mitten in den Lärm der Welt hinein.