Was essen wir in Zukunft?

Food­trends werden durch die Krise einem Stress­test unter­zo­gen. Einige werden verstärkt, andere aus­ge­bremst. Doch welche Wege nimmt unsere Ernährung, was kommt künftig auf den Tisch und in den Magen? Bio versus Design, Indi­vi­dua­li­tät versus Main­stream, regional versus inter­na­tio­nal, männlich versus weiblich.

Haben Sie sich schon mal überlegt, wie viele ver­schie­de­ne Nah­rungs­mit­tel Sie bisher gegessen haben – oder zumindest verkostet? Etwas mehr als 500 werden es wohl gewesen sein, wenn man Kräuter und Gewürze dazuzählt. Doch selbst wenn es 1000 wären, ist das nur ein Bruchteil des Möglichen. Denn wer im Umkreis einer Großstadt lebt, hat zumindest theo­re­tisch die Wahl zwischen 150.000 unter­schied­li­chen Lebens­mit­teln – vom Bio-Apfel aus öko­lo­gi­scher Land­wirt­schaft bis zum Designer-Snack aus dem Extruder.

Diese enorme Vielfalt hat ihren Ursprung nicht nur im Streben der Nah­rungs­mit­tel­kon­zer­ne nach stei­gen­den Umsätzen und Markt­prä­senz. Sie liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass sich die äußeren Rah­men­be­din­gun­gen nach­hal­tig verändern: Arbeits­welt und gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren ebenso wie Fami­li­en­ver­hält­nis­se und All­tags­ge­stal­tung, kol­lek­ti­ve Wert­vor­stel­lun­gen und per­sön­li­chen Lebens­zie­le. Und eben unvor­her­seh­ba­re Krisen.

Zwar kochen laut Umfragen viele Menschen seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wieder mehr als noch im Jahr davor daheim, der strikte Fami­li­en­tisch samt aus­schließ­lich gut­bür­ger­li­cher Haus­manns­kost, fixen Essens­zei­ten und unfle­xi­blen Ernäh­rungs­vor­schrif­ten hat dennoch aus­ge­dient. Erlaubt ist, was gefällt und schmeckt. Und oft werden dabei mehrere Bedürf­nis­se und Vorlieben gleich­zei­tig berück­sich­tigt. So ist es keine Sel­ten­heit mehr, wenn sich Vater ein deftiges Steak schmecken lässt, die Mutter einen Salat mit Mee­res­früch­ten genießt, die Tochter daneben eine vegane Curry-Reis-Bowl und der kleine Spross sich an einem Mix aus dem Ganzen à la Fin­ger­food samt Extra­saucen erfreut. Denn Essen, so Hanni Rützer, Ernäh­rungs­wis­sen­schaf­te­rin, Foodtrend-For­sche­rin sowie Gründerin und Leiterin des future­food­stu­di­os (www.futurefoodstudio.at), „wird zunehmend zur Frage der indi­vi­du­el­len Lebens­ge­schich­te und der bewussten Lebens­ge­stal­tung“. Und da werde es auch künftig keine Ein­heits­kü­che mehr geben, sondern ver­schie­de­ne Ess­kon­zep­te für ent­spre­chen­de Anfor­de­rungs­pro­fi­le.

Aller­dings habe die bereits seit mehr als einem Jahr anhal­ten­de Corona-Krise in viel­fa­cher Hinsicht einen Einfluss auf den Food­be­reich. Trend­for­sche­rin Rützler sieht sie vielfach als Beschleu­ni­ger von Ent­wick­lun­gen, bei­spiels­wei­se im Bereich Delivery mit Online-Bestel­lung und ‑Bezahlung, in anderen Fällen wiederum als Bremse einiger Ent­wick­lun­gen, wie z. B. beim Wandel des Ess­ver­hal­tens in Richtung „Sna­cki­fi­ca­ti­on“. Wieder andere Trends werden durch sie verstärkt, wie die Mega­trends Gesund­heit und Neo-Ökologie. Einige von Hanni Rützler und Kollegen Wolfgang Reiter fest­ge­stell­ten neuen Ent­wick­lun­gen im „Food Report 2021“ des Zukunfts­in­sti­tuts:

Ghost Kitchen. Die All­tags­gas­tro­no­mie wird durch die wachsende Beliebt­heit von Food-Delivery-Services und Ghost Kitchens grund­le­gend verändert. „Gutes schnell nach Hause geliefert” – auf Basis dieses Prinzips bieten die Konzepte des Fast-Casual-Markts hohe Fle­xi­bi­li­tät beim Angebot der Speisen und geringe Kosten bei der Stand­ort­wahl. Der Delivery-Markt bleibt hart umkämpft – und die Macht­ver­hält­nis­se von Lie­fer­ser­vices und Restau­rants ver­schie­ben sich zunehmend.

Bio­di­ver­si­ty. Land­wirt­schaft und Lebens­mit­tel­pro­duk­ti­on stehen vor tief­grei­fen­den Erneue­run­gen. Um die globale Ernäh­rungs­ver­sor­gung künftig gewähr­leis­ten zu können, braucht es eine Besinnung auf die Vielfalt von Nutz­pflan­zen und ‑tieren. Agro­bio­di­ver­si­tät macht die Land­wirt­schaft in Zeiten des Kli­ma­wan­dels resi­li­en­ter und sorgt zugleich für eine Berei­che­rung unserer Ernährung.

Liquid Evolution. Gesund­heit ist ein wirk­mäch­ti­ger Megatrend, der durch die Krise einen Schub erhalten hat und unsere Ess- und Trink­kul­tur mehr denn je prägt. Immer mehr Menschen möchten etwa auf Alkohol in Getränken ver­zich­ten, aber gleich­zei­tig den Geschmack und Genuss nicht missen. Vor allem Start-ups mischen die Beverage-Branche mit alkofrei­en Urban Drinks auf.

Generelle Mega­trends

Während in den ver­gan­ge­nen Jahren „Con­ve­ni­ence Cooking“, also die nicht allzu auf­wen­di­ge Zusam­men­stel­lung einer Mahlzeit aus fertigen und halb­fer­ti­gen Elementen, die zeit­auf­wen­di­ge Zube­rei­tung von Roh­pro­duk­ten abzulösen schien, wird nun vermehrt wieder auf frische, qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge Zutaten Wert gelegt – möglichst saisonal, regional, mit doku­men­tier­tem Ursprung und einem für die Gesund­heit und das all­ge­mei­ne Wohl­be­fin­den för­der­li­chen Effekt.

Vor dem Hin­ter­grund der pan­de­mi­schen Gesund­heits­ge­fähr­dung fokus­sie­ren sich viele Menschen also verstärkt auf eine gesund­heits­för­dern­de Ernährung, die sich im Trend­for­scher-Jargon als „Forced bzw. Soft Health“ wie­der­fin­det. So kocht laut AMA-Erhebung knapp die Hälfte der Öster­rei­cher jetzt wieder häufiger, zwei Drittel über­wie­gend mit frischen Zutaten, Gemü­se­kis­ten-Lie­fe­run­gen und der Frisch­obst­kon­sum nehmen ebenfalls zu. Ein weiteres inter­es­san­tes Phänomen, das bereits vor Corona fest­zu­stel­len war: Die Ernährung ist neben dem Wetter das belieb­tes­te Smalltalk-Thema. Jede und jeder hat eine Meinung. Hanni Rützler: „Die Indi­vi­dua­li­sie­rung der Gesell­schaft zeigt sich auch in der Ernährung. Wir haben – befreit von Mangel, Tra­di­tio­nen und sozialen Normen – die Mög­lich­keit, zu wählen, wo wir einkaufen, was wir essen und wie wir es zube­rei­ten. Diese Freiheit bedeutet aber auch ein großes Stück Arbeit. Man muss sich fast täglich aufs Neue fragen: Welche Lebens­mit­tel passen zu mir? Was tut mir gut und was nicht? Was passt zu meinem Lebens­stil? Ent­spricht meine Ernährung meinen Werten?“

Grund­sätz­lich fallen unsere täglichen Ess­ent­schei­dun­gen laut Rützler nicht nur aufgrund der jewei­li­gen öko­no­mi­schen Mög­lich­kei­ten, per­sön­li­chen Neigungen oder wech­seln­den Zufälle, sondern „sind auch von Mega­trends beein­flusst, die den gesell­schaft­li­chen Wandel min­des­tens ein halbes Jahr­hun­dert lang prägen und Aus­wir­kun­gen auf alle Bereiche unseres Lebens haben – auf unseren Konsum, unsere zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen und unsere Arbeits­welt“. Beim Essen sind es ins­be­son­de­re die Mega­trends Indi­vi­dua­li­sie­rung, der Gender bzw. Female Shift, New Work und Neo Nature.

Indi­vi­dua­li­sie­rung. Jeder bestimmt für sich selbst, was ihm guttut, was er essen und mit wem er essen will. Stichwort: „Per­so­na­li­zed food“, also indi­vi­du­ell zusam­men­ge­stell­te und auf die spe­zi­el­len Bedürf­nis­se jedes einzelnen Kon­su­men­ten – auch innerhalb einer Familie – abge­stimm­te Nah­rungs­mit­tel bzw. Menüs.

Gender bzw. Female Shift. Die „Her­ren­spei­se Fleisch“ verliert an Bedeutung, die weib­li­chen Geschmacks­vor­lie­ben – leichte Küche, viel Obst und Gemüse, mehr Getrei­de­pro­duk­te und Fisch – werden auf­ge­wer­tet. Stichwort: „Unisex food“ – unter Jugend­li­chen gibt es heute deutlich weniger geschlechts­spe­zi­fi­sche Ernäh­rungs­vor­lie­ben.

New Work. Mul­ti­tas­king bestimmt immer mehr unseren Alltag. Essen wird zur „Neben­be­schäf­ti­gung“, man früh­stückt im Auto am Weg zur Arbeit, isst mittag während man seine Mails beant­wor­tet oder verbindet Steh­buf­fet mit Sozi­al­kon­tak­ten. Stichwort: „Grazing“ – statt drei Haupt­mahl­zei­ten nimmt man den ganzen Tag über (zunehmend gesunde) Klei­nig­kei­ten zu sich.

Neo Nature. Umwelt­be­wusst­sein und Nach­hal­tig­keit avan­cie­ren zunehmend zur gesell­schaft­li­chen Bewegung und prägen immer mehr auch unser Ess­ver­hal­ten. „Zero Waste“, also die Reduktion des Abfalls, sowie „Nose to Tail“- und „Leaf to Root”-Eating, sprich: die ganze Nutzung von Tieren, Obst und Gemüse, sind die nach­hal­ti­gen Trends beim Essen der Zukunft.

Sozia­li­sier­tes Ess­ver­hal­ten

Stellt sich die Frage, wie schnell Herr und Frau Öster­rei­cher von diesen Ent­wick­lun­gen geprägt werden. Zukunfts­for­scher Matthias Horx kon­sta­tiert ein „nach­läu­fi­ges“ Ess­ver­hal­ten: „Wir werden als Kinder ess-sozia­li­siert und schleppen das bis in unser Erwach­se­nen­al­ter mit.“ Ande­rer­seits nimmt das Wissen über Essen und Lebens­mit­tel zu (bedingt durch den leich­te­ren und fast immer schnell ver­füg­ba­ren Online-Infor­ma­ti­ons­zu­gang). Auch Genuss werde immer öfter zur Pflicht, statt – gemäß der Slow-Food-Phi­lo­so­phie – ein Recht zu sein. Die Menschen entdecken, dass Kochen eine kreative, lust­brin­gen­de „Arbeit“ ist und „gut essen“ ein Lebens­stil. Fleisch­kon­sum ist zwar kein Aus­lauf­mo­dell, jedoch wird Tie­ri­sches zunehmend mit Bedacht gegessen. Oft auch schon seltener in der Woche oder eben gar nicht mehr – wie die stei­gen­den Zahlen an Vege­ta­ri­ern und Veganern, vor allem aber Fle­xi­ta­rie­ren zeigen. Hanni Rützler: „Wir essen weniger Fleisch als vor ein paar Jahren. Und der Fleisch­kon­sum wird in den nächsten Jahr­zehn­ten noch weiter abnehmen. Vor allem die jüngeren Gene­ra­tio­nen schieben hier den Wandel an. Nicht nur aus gesund­heit­li­chen, sondern vor allem aus tier­ethi­schen und öko­lo­gi­schen Gründen. Sie setzen sich intensiv damit aus­ein­an­der, wie wir mit Tieren umgehen. Und das heißt auch, sie nicht bloß wie eine x‑beliebige Ware zu behandeln.“ In Restau­rants brauche es künftig mehr kuli­na­ri­sche Alter­na­ti­ven zu Fleisch. Und bei allen Angeboten mehr Qualität. „Wer auf Fleisch setzt, muss das richtig gut und auch nach­hal­tig machen. Und wer auf vegan setzt, muss auch das richtig gut machen, nicht bloß mit hoch­ver­ar­bei­te­ten Fer­tig­pro­duk­ten. Es braucht Mut zur Lücke und zur Spe­zia­li­sie­rung“, so die Foodtrend-Expertin.

Hybride Kon­su­men­ten

Was alle Fachleute bestä­ti­gen: Wir befrie­di­gen jetzt schon zu unter­schied­li­chen Gele­gen­hei­ten unter­schied­li­che Bedürf­nis­se – mal üppig tafeln, dann wieder schnell genießen, zwi­schen­durch Basics beim Diskonter einkaufen und kurz darauf im Deli­ka­tes­sen­la­den prassen, kurz: Wir sind „hybride Kon­su­men­ten“, die Fast-Food-Lokale ebenso beehren wie kuli­na­ri­sche Hau­ben­tem­pel.
Ganz grob lassen sich die Trends fünf Adjek­ti­ven zuordnen: lustvoll, bequem, gesund, funk­tio­nal und günstig. Was nicht heißen soll, dass das eine das andere aus­schließt, denn die Übergänge sind ebenso flexibel wie die Anfor­de­run­gen der Kon­su­men­ten.

Das Essen der Zukunft scheint also eine recht bunte Sache zu werden – und das in jedem Sinn des Wortes. Denn neben Ernäh­rungs­wis­sen­schaf­tern, Biologen und Chemikern spielen Food-Designer eine immer wich­ti­ge­re Rolle bei der Ent­wick­lung neuer Produkte. Denn die Kaufkraft soll stark und die Neugier und Expe­ri­men­tier­freu­de der Menschen groß bleiben. „Ein Modetrend ist bei­spiels­wei­se Rosa Scho­ko­la­de“, sagt Ernäh­rungs­wis­sen­schaf­te­rin Martina Tischer. „Diese wurde in der Schweiz aus einer speziell gezüch­te­ten Kakao­boh­ne ent­wi­ckelt. Man kann jetzt seinen Kakao also in rosa trinken.“ Ebenso neu ist eine pink­far­be­ne Ananas, gezüchtet in Costa Rica und ein Blickfang auf jedem Obst­tel­ler. Aber auch blauer Tee sei hip, so Tischer. „Er wird aus Schmet­ter­lings­blü­ten her­ge­stellt, im asia­ti­schen Raum aller­dings schon seit Jahr­zehn­ten getrunken. Durch Zugabe von Zitro­nen­saft verändert er seine Farbe in Lila“. Und weil „einfach nur so Kaffee trinken“ vielen lang­wei­lig geworden ist, trinkt man ihn nicht schwarz, sondern fallweise „schwärzer“, indem man Aktiv­koh­le beimengt. „Durch die Kohle wird dem Kaffee auch noch eine ent­gif­ten­de Wirkung zuge­schrie­ben – und als ‚Goth Latte‘ ist dieses Getränk für einige Menschen bereits ein Highlight.“ Und so wissen Foodtrend-Forscher ebenso wie Food-Designer: Essen ist und bleibt eine prägende und überaus sinnliche Sache – und Kochen die älteste Magie der Welt, mit der sich Körper, Geist und Seele glei­cher­ma­ßen betören lassen.

Foto: Trend­for­sche­rin und Ernäh­rungs­wis­sen­schaf­te­rin Hanni Rützler

Foto­credit: Thomas Wun­der­lich

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