Martin Traxl|

Von der Leich­tig­keit des Seins

Man muss nicht besonders alt sein, um nur allzu gern an Zeiten zurückzudenken, in denen die Welt noch in Ordnung war.

An Zeiten der Unschuld, als viele Themen und Pro­ble­me noch gar nicht exis­tier­ten. Als das Leben noch viel ein­fa­cher war und wir Muße im Übermaß hatten. Als wir offenen Mei­nungs­aus­tausch am Wirts­haus­tisch pfleg­ten, anstatt uns den All­tags­frust in digi­ta­len Räumen gegen­sei­tig um die Ohren zu hauen. Als man nicht jedes Wort auf die Waag­scha­le legen musste und Fehler noch normal waren. Aber war es damals wirk­lich so viel ange­neh­mer? Was davon ist nost­al­gi­sche Ver­klä­rung?

Wir haben in den letzten Jahr­zehn­ten immense gesell­schaft­li­che Fort­schrit­te gemacht. Alle seriö­sen Daten zeigen, dass es der Mensch­heit in ihrer Gesamt­heit immer besser geht. Die Lebens­er­war­tung ist ebenso gestie­gen wie die Alpha­be­ti­sie­rungs­ra­te, Armut und Hunger wurden redu­ziert, die Chan­cen­gleich­heit wächst, wenn auch zaghaft. Und doch spre­chen und lesen wir von nichts anderem als Krisen, Kriegen, Kor­rup­ti­on. Die Zeit ist aus den Fugen, wie es bei Shake­speare heißt, und viele Men­schen sehnen eine Ver­än­de­rung herbei. Die einen wollen Beru­hi­gung und ein Lebens­ge­fühl, „wie es früher einmal war“, die anderen pre­di­gen Revo­lu­ti­on und Dis­rup­ti­on, ein Mode­be­griff, den vor allem digi­ta­le Nerds und selbst­er­nann­te Wirt­schafts­vi­sio­nä­re gern in den Mund nehmen.

Wir sollen alles über den Haufen werfen, altes Denken und über­kom­me­ne Tech­ni­ken bei­sei­te­le­gen und völlig neue Muster und Struk­tu­ren kre­ieren. Klingt modern und pro­gres­siv – stei­gert aber auch die Dra­ma­tik. Die stän­di­ge Bot­schaft ist: sofort alles anders machen, sonst ist es aus. Alles, was bisher war, ist falsch. Wir waren Idioten, jetzt sind wir klug. Wer nicht mit­zieht, ist von gestern. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Haupt­sa­che Pola­ri­sie­rung. Schwarz und Weiß. Nur keine Zwi­schen­tö­ne. Ent­spricht das noch der mensch­li­chen Natur, die immer stolz auf ihre Facet­ten und Viel­schich­tig­keit war? Man kann das Ruder her­um­rei­ßen, man kann aber auch eine Kurs­än­de­rung durch­füh­ren, ohne dass es die Men­schen in die Ecke schleu­dert. Die eine Mög­lich­keit ist, die Dys­to­pie zur domi­nan­ten Erzähl­form zu machen, die andere wäre, Utopien zu ent­wer­fen, die Resi­gna­ti­on, Pes­si­mis­mus und Fata­lis­mus hinter sich lassen.

Ideen und Visio­nen, die durch­aus den Mut zur Ver­än­de­rung in sich tragen, aber nicht per­ma­nent von der Behaup­tung aus­ge­hen, wir befin­den uns nur noch auf einem Scher­ben­hau­fen. Pro­jek­te und Initia­ti­ven, die zeigen, wie Men­schen sich für mehr Demo­kra­tie, Soli­da­ri­tät und Nach­hal­tig­keit ein­set­zen. Gestal­te­ri­sche Ansätze, die Alter­na­ti­ven auf­zei­gen oder auch bewähr­te, aber ver­ges­se­ne Tech­ni­ken wie­der­be­le­ben. Bei­spie­le dafür gibt es zuhauf, vor allem im kul­tu­rel­len Bereich – und beson­ders häufig im länd­li­chen Umfeld.

In der Archi­tek­tur­sze­ne etwa macht sich ein Denken breit, das stark vom Hin­ter­fra­gen der eigenen Branche geprägt ist: ver­mei­den von wei­te­rer Boden­ver­sie­ge­lung. Rück­bau­ten von Straßen und großen Flächen. Begrü­nung von Orts­ker­nen. Neu­bau­ten nur noch da, wo es unbe­dingt nötig ist. Statt­des­sen Nutzung vor­han­de­ner Bau­sub­tanz, kluge Ver­bin­dun­gen von neuen und his­to­ri­schen Gebäu­de­tei­len, Ver­än­de­run­gen von Gebäu­de­funk­tio­nen. Eine alte Sei­fen­fa­brik kann durch­aus ein chices Bou­ti­que­ho­tel werden, ohne dass man einen Neubau auf die grüne Wiese stellen muss. Und nicht zuletzt schafft die Archi­tek­tur Begeg­nungs­räu­me und damit sozia­len Raum, der wie­der­um zum Nach­den­ken über weitere Maß­nah­men zur För­de­rung der Dorf­ge­mein­schaft genutzt werden kann.

Da gibt es zahl­rei­che bemer­kens­wer­te Ansätze, die das Berufs­bild der Archi­tek­tin­nen und Archi­tek­ten erheb­lich erwei­tern. Der Bau­künst­ler wird ver­mehrt zum Sozi­al­for­scher und zum poli­ti­schen Gestal­ter. In Zukunfts­werk­stät­ten werden Utopien ent­wi­ckelt, die uns ermu­ti­gen und inspi­rie­ren, alter­na­ti­ve Mög­lich­kei­ten zu denken und zu gestal­ten. Etwa wie man der Land­flucht begeg­net, wie man jungen Men­schen neue Chancen berei­tet, um in ihrem Dorf zu bleiben und ein gutes Leben zu führen. Arbeit und Abwechs­lung zu finden. Hier kommt auch die Kunst ins Spiel. Unzäh­li­ge zumeist idea­lis­tisch betrie­be­ne Kul­tur­in­itia­ti­ven bringen Leben in die Dörfer, ver­an­stal­ten Kon­zer­te und Film­aben­de, Lesun­gen und Dis­kus­sio­nen, die beflü­geln und anregen. Junge Men­schen werden mit neuen Themen und Sicht­wei­sen kon­fron­tiert, mit Gedan­ken, die sti­mu­lie­ren und Mut machen.

Man kann dabei lernen, dass Men­schen sich auch im realen Leben aus­tau­schen können und nicht nur im Chat­room, wo im Schutz der Anony­mi­tät sehr rasch die Grob­hei­ten hin und her fliegen. Kom­mu­ni­ka­ti­on wird leider in den Schulen nicht gelehrt und gerät im digi­ta­len Raum oft zum Schlacht­feld fest­ge­fah­re­ner Mei­nun­gen. Umso wich­ti­ger ist die Pflege einer Gesprächs­kul­tur in der leib­haf­ti­gen Begeg­nung von Men­schen unter­schied­li­cher Gene­ra­tio­nen. Das fördert die Fähig­keit des Zuhö­rens und Lernens ebenso wie den Respekt gegen­über anderen Mei­nun­gen. Das mag selbst­ver­ständ­lich oder gar pries­ter­haft klingen, ver­weist aber auf ein ekla­tan­tes Manko einer durch Krisen und Iso­la­ti­on geschä­dig­ten Gesell­schaft. Viele posi­ti­ve Ansätze zu diesen Themen finden sich auch im Pro­gramm der euro­päi­schen Kul­tur­haupt­stadt. Bad Ischl und die umlie­gen­den Gemein­den setzen weniger auf Behüb­schung und kurz­fris­ti­gen Klimbim als auf nach­hal­ti­ge Initia­ti­ven, die der Region Salz­kam­mer­gut authen­ti­sches Leben abseits des Tou­ris­mus zurück­brin­gen sollen.

Man zer­bricht sich den Kopf und ent­wi­ckelt Kon­zep­te gegen Leer­stän­de in Orts­ker­nen und gegen das gras­sie­ren­de Wirts­haus­ster­ben. Wenn man gesehen hat, mit welcher Lei­den­schaft der bekann­te Koch Chris­toph „Krauli“ Held in einer auf­ge­las­se­nen und kurz­fris­tig wie­der­be­leb­ten Bahn­hofs­re­stau­ra­ti­on junge Men­schen für die Gas­tro­no­mie begeis­tert, bekommt man Tränen in den Augen und neue Hoff­nung für die Zukunft. Im Hand­werk­haus in Bad Goisern zeigen enga­gier­te Kul­tur­ar­bei­ter auf ein­drück­li­che Weise, wie wichtig hand­werk­li­che Tra­di­tio­nen für die Iden­ti­tät einer Region sind – und wie man mit künst­le­ri­schen Inter­ven­tio­nen eben dieses Hand­werk zu neuen Höhen­flü­gen anset­zen lässt. Und auf der stei­ri­schen Seite, am Grundl­see, lehrt man Nach­wuchs­kräf­te über­lie­fer­te Tech­ni­ken im Umgang mit Kalk und Mörtel bei der Restau­rie­rung his­to­ri­scher Bau­wer­ke. Die Dinge sind oft gar nicht so kom­pli­ziert, nur wissen und anneh­men muss man sie: lernen aus der Ver­gan­gen­heit, um die Zukunft zu gestal­ten.

Das alles spricht für einen ver­nünf­ti­gen Umgang mit Ver­än­de­rung und Ent­wick­lung, für das Auf­bau­en auf Vor­han­de­nem, für das Ein­be­zie­hen von mög­lichst viel Wissen anstel­le des Aus­ra­die­rens, für Evo­lu­ti­on statt Revo­lu­ti­on. Selbst wenn die Wiener Fest­wo­chen gerade die Freie Repu­blik Wien aus­ru­fen, wirken ihre Appelle zur Revo­lu­ti­on auf rüh­ren­de Weise nost­al­gisch, indem sie auf Insze­nie­run­gen und Aus­drucks­for­men setzen, die frap­pant den Liedern und Parolen des aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­derts ähneln.

Da werden Erin­ne­run­gen wach und Emo­tio­nen geschürt, die nichts mit der Schwere der Geschich­te zu tun haben, sondern mit der Freude der Erfah­rung und der Viel­far­big­keit von Kultur. Selbst bei der Bien­na­le von Venedig, die schon im Vorfeld poli­tisch auf­ge­la­den und ideo­lo­gisch belas­tet wie noch nie war, ging es nicht nur um die Krisen dieser Welt. Trotz des resi­gna­tiv anmu­ten­den Titels „Fremde überall“ ver­such­ten viele Künst­le­rin­nen und Künst­ler posi­ti­ve und kon­struk­ti­ve Ansätze zu finden.

Natür­lich wurden Kolo­nia­li­sie­rung, Aus­beu­tung, Migra­ti­on und Ungleich­ge­wicht the­ma­ti­siert, aber beson­ders fas­zi­nie­rend waren jene Expo­na­te, die nicht auf bloßen Aktio­nis­mus gesetzt haben, sondern auf subtile, künst­le­ri­sche Mittel – ohne dabei unkri­tisch zu werden. Letzt­lich geht es in der Kunst immer um über­zeu­gen­de ästhe­ti­sche Kon­zep­te, Ein­falls­reich­tum, Ori­gi­na­li­tät und Qua­li­tät in der Umset­zung, damit unsere inneren Seiten zum Klingen gebracht werden. Selbst Schön­heit darf dabei wieder ein Kri­te­ri­um sein.

Wahr­schein­lich sollten wir uns die Kunst viel öfter zum Vorbild nehmen, um die Her­aus­for­de­run­gen der Gesell­schaft in den Griff zu bekom­men. Die Kunst ist kein All­heil­mit­tel, aber sie schafft Visio­nen und schärft die Sinne, sie ermög­licht unge­wohn­te Blick­win­kel und zeigt neue Wege auf, sie macht die Fäden zwi­schen Indi­vi­du­um und Gemein­schaft sicht­bar. Und sie lässt uns immer wieder – trotz Tief­gang und Enga­ge­ment – die Leich­tig­keit des Seins spüren, die uns allen so schmerz­lich abhan­den­ge­kom­men ist.

Wir müssen sie uns zurück­ho­len. Wir müssen einen neuen Opti­mis­mus ent­wi­ckeln, eine kon­struk­ti­ve Her­an­ge­hens­wei­se, die sich von Ord­nungs­ru­fen und Bes­ser­wis­se­rei nicht beirren lässt. Einen Hang zur Utopie mit Mut zu Nai­vi­tät und unkon­ven­tio­nel­lem Denken, ver­ant­wor­tungs­voll vor­aus­bli­ckend, aber auch mit der Fähig­keit, den Moment zu genie­ßen. Das dürfen wir nämlich auch noch. Das Leben ist kurz genug.

 

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