Wolf­gang Wildner|

Freut euch des Lebens…

Lebensfreude in der postparadiesischen Grantscherbengesellschaft: Vorwort zu einer disruptiven Utopie.

Es geht uns gut. Doch geht es uns wirk­lich gut dabei? Lassen wir hier einmal jene bei­sei­te, denen es tat­säch­lich dreckig geht. Jene, die sich nicht nur „abge­hängt“ fühlen, sondern die tat­säch­lich abge­hängt sind. Die Schwa­chen und Kranken, die Armen und Ver­zwei­fel­ten. Die, deren Ein­künf­te nicht einmal aus­rei­chen, um die ele­men­tars­ten Lebens­be­dürf­nis­se zu decken: Wohnen, Essen, Heizen. Die, die tat­säch­lich schwe­res Leid erfah­ren haben oder gerade erfah­ren. Das ist nicht unser Resort, nicht hier.

Doch ihr vielen anderen, die ihr vom Leben bekommt, was es zu bieten hat, ihr Erfolgs­ver­wöhn­ten, gut Betuch­ten, grosso modo Reichen und Schönen, ihr Leis­tungs­be­rei­ten, Genie­ßen­den und Kon­su­mie­ren­den, ihr Luxus­ur­lau­ben­den und Pre­mi­um­be­wuss­ten, ihr Wohl­ha­ben­den und vom Wohl­stand Ver­wöhn­ten. Ihr, die ihr dennoch jammert und quen­gelt, Neid und Miss­gunst ver­brei­tet, euren Pes­si­mis­mus zu Markte tragt, Trübsal blast, Kata­stro­phen an die Wand malt, euch zu Opfern sti­li­siert: Hey, was ist euer Problem? Ist euer Frust gene­tisch bedingt?

Schon klar, ihr dürft nicht mit 220 im dri­ver­as­sis­tier­ten Modus über die Auto­bahn flitzen. Wenigs­tens nicht in Öster­reich, jetzt schon gar nicht mehr, denn ihr lebt in einer Ver­bots­ge­sell­schaft und in Extre­mis ist euer Auto weg. (Außer es erwischt euch keiner, wofür es auch eine gewisse Evidenz gibt.) Ihr müsst jetzt auch noch warten, bis die selbst­ge­rech­ten Kli­makle­ber endlich vom Asphalt geklet­zelt sind, nicht nur bei Rot. Social Media stresst euch. Und ihr habt sowieso Stress. In einer altern­den Gesell­schaft werdet ihr außer­dem ringsum allent­hal­ben mit der End­lich­keit des Lebens kon­fron­tiert, jede Menge Greise, was logi­scher­wei­se eine durch­wach­se­ne Stim­mungs­la­ge erzeugt. Bei einem Durch­schnitts­al­ter von 40+ gibt’s halt gesell­schaft­lich nicht mehr so viel zu lachen, sorry. Unbe­schwer­te Lebens­freu­de ist nun mal ein Pri­vi­leg der Jugend. Doch die hat auch nichts mehr zu lachen: Denn ob in 40 Jahren noch jemand eine Pension bekommt, ist frag­lich. Und diese Unge­wiss­heit drückt natür­lich letzten Endes auch auf das juve­ni­le Stim­mungs­ba­ro­me­ter.

Die gute und die schlech­te Nach­richt: Das alles hat mit eurer per­sön­li­chen Stim­mungs­la­ge – Lebens­freu­de oder Frust – nur bedingt zu tun. Die eigent­li­chen Gründe für die Lebens­freu­de­fra­gi­li­tät unserer Exis­tenz liegen nämlich tiefer. Schöp­fungs­ge­schicht­lich war die Freude am Dasein – vulgo Lebens­freu­de – nämlich spä­tes­tens mit der Ent­las­sung aus dem Para­dies getrübt. Und seither rennen wir – salopp for­mu­liert – dem ver­lo­re­nen Para­dies hin­ter­her. Wie in einem Hams­ter­rad. Denn am ver­lo­ckends­ten erscheint uns in der Regel ja gerade das, was wir nicht (mehr) haben.

Doch damit nicht genug. Auch der indi­vi­du­el­le Ein­stieg ins Leben ist kon­ta­mi­niert: Ob wir nun durch den Geburts­ka­nal gepresst oder nach einem Kai­ser­schnitt sanft dem Uterus ent­ho­ben werden, die Freude darüber scheint limi­tiert zu sein. Wir quit­tie­ren unser Ein­tref­fen nämlich mit einem nach Luft schnap­pen­den Lebens­zei­chen, das nur sehr euphe­mis­tisch als Freu­den­schrei bezeich­net werden kann. Wir fangen uns bei der Geburt viel­mehr, so jeden­falls der gerne kol­por­tier­te tie­fen­psy­cho­lo­gi­sche Erkennt­nis­stand, in der Regel gleich einmal ein Trauma ein – raus da, die onto­ge­ne­ti­sche Ver­trei­bung aus dem Para­dies sozu­sa­gen. Uns stellt sich somit post­na­tal und post­pa­ra­die­sisch die zen­tra­le Frage als Lebens­auf­ga­be: Wie kommen wir (wieder) zu (mehr) Lebens­freu­de? Kein Zufall, dass diverse Lexika und Wör­ter­bü­cher die Lebens­freu­de häufig ex nega­tivo illus­trie­ren, etwa als das „Gegen­teil von Anhe­do­nie und Depres­si­on“. Wie also Lebens­freu­de wider alle Wech­sel­fäl­le, Untie­fen und Gemein­hei­ten des Lebens wie­der­erlan­gen?

Oder wie wenigs­tens die rudi­men­tär noch exis­tie­ren­den Lebens­freu­de­brü­cken­köp­fe und ‑bas­tio­nen gegen innere und äußere Feinde ver­tei­di­gen und mög­li­cher­wei­se sogar einen Keil in anhe­do­ni­sche und depres­si­ve Ter­ri­to­ri­en hin­ein­trei­ben? Anhe­do­nie bezeich­net übri­gens die Unfä­hig­keit bezie­hungs­wei­se den Verlust der Fähig­keit, Freude und Lust zu emp­fin­den. Es blieb Epikur, dem 341 vor Chris­tus auf der grie­chi­schen Insel Samos gebo­re­nen Phi­lo­so­phen, vor­be­hal­ten, die Lebens­freu­de aus den Trüm­mern der post­pa­ra­die­si­schen mensch­li­chen Exis­tenz zu rekon­stru­ie­ren und auf ein ver­meint­lich solides Fun­da­ment zu betten. Epikurs Ethik­leh­re ziele, heißt es, im Kern auf Erhö­hung und Ver­ste­ti­gung der Lebens­freu­de durch den Genuss eines jeden Tages, womög­lich jeden Augen­blicks … Dazu gelte es, alle Beein­träch­ti­gun­gen des See­len­frie­dens zu ver­mei­den und gege­be­nen­falls zu über­win­den, die aus Begier­den, Furcht und Schmerz erwach­sen können.

Jüngst kam der Autor dieser Zeilen an zwei älteren Herren vorbei, die sich nach einer kurzen Begrü­ßung aus­tausch­ten: „Wie geht’s?“, fragte der eine. „Man muss zufrie­den sein“, ant­wor­te­te der andere. Er machte dabei einen durch­aus lebens­af­fi­nen Ein­druck und lächel­te – ein biss­chen gequält aller­dings. Ist es das, was Epikur vor gut 2300 Jahren mit Lebens­freu­de meinte? „Man muss zufrie­den sein.“

Aber sind wir zufrie­den? Und gerät der mor­gend­li­che Weg zur Arbeit, um nur einen der mög­li­chen Schau­plät­ze zu inspi­zie­ren, zur Demons­tra­ti­on kol­lek­ti­ver Lebens­freu­de? Und wenn nicht: Was hindert so viele daran, mor­gend­lich Lebens­freu­de zum Aus­druck zu bringen? Sind es Krank­heit, Furcht und Ängste? Kon­flik­te, Kriege, Kli­ma­kri­se? Oder führt der Weg zur Lebens­freu­de hypo­the­tisch etwa (nur so ein Gedanke) über die Ver­mei­dung von Erwerbs­ar­beit? Ist der Schmerz des 21. Jahr­hun­derts, den es zu über­win­den gilt, um Lebens­freu­de zu erfah­ren, wenigs­tens in unseren soge­nann­ten Wohl­stands­ge­sell­schaf­ten unser Job? Denn abends an lauen Som­mer­aben­den nach getanem Tagwerk – ist da die Stim­mung nicht viel auf­ge­räum­ter, um nicht zu sagen teils trunken vor Lebens­lust und ‑freude?

In unseren mehr oder weniger post­in­dus­tri­el­len Kon­sum­ge­sell­schaf­ten sehen wir uns heute wider alle his­to­ri­sche Ver­nunft umfas­send lebens­freu­de­an­spruchs­be­rech­tigt.

Wir geste­hen uns aller­dings nicht bloß ein Anrecht zu, Lebens­freu­de zu erfah­ren. Das breite Grinsen ist gera­de­zu Pflicht. Wir mögen, so das Gebot, lächelnd durchs Leben gehen und unsere Lebens­freu­de mög­lichst demons­tra­tiv authen­tisch (ein Wider­spruch? Ach nein!) zum Aus­druck bringen, nicht nur downhill auf dem Flow­trail. Es wird von uns erwar­tet und wir erwar­ten es von uns. Es gibt einen win­zi­gen Haken: Wir müssen selbst dafür sorgen. Das ver­su­chen viele ja auch redlich. Doch gelingt es ihnen? Gelingt es richtig gut und nach­hal­tig? Und der täg­li­che Grant­scher­ben, der Nörgler und Jam­me­rer in uns? Resul­tiert er aus der Selfful­fil­ling Pro­phe­cy, dass es halt leider doch nicht ganz so einfach ist, seine höchst­per­sön­li­che Lebens­freu­de in tro­cke­ne Tücher zu bringen. Und dass wir viel­leicht doch wieder einmal lieber erst morgen damit begin­nen. Angst vor dem Schei­tern? Und warten wir nicht alle nach wie vor wenigs­tens ein biss­chen darauf, dass ein Wunder geschieht – eine Art Rück­kehr ins Para­dies; zu ewiger Leich­tig­keit und Lebens­freu­de, wenigs­tens solange wir leben. Ein Lot­to­sech­ser. Eine Geschäfts­idee, die uns aller Sorgen enthebt, weil sie ohne Mühsal ska­liert. Eine Wun­der­app, die sich expo­nen­ti­ell mil­lio­nen­fach ver­brei­tet wie zum Bei­spiel das Coro­na­vi­rus (das ja auch einigen indi­rekt zu Wohl­stand gereicht haben soll). Eine wenigs­tens indi­vi­du­ell wirk­sa­me welt­geis­tig-dia­lek­ti­sche Wendung der Geschich­te – nachdem das mit dem kol­lek­ti­ven Ende der Geschich­te nicht so ganz geklappt hat; wenigs­tens noch nicht.

Jetzt mal ehrlich: Wie viele Schil­de­run­gen sind uns bekannt, die das ver­lo­re­ne Para­dies mit Arbeit in Ver­bin­dung bringen? Geben wir jedoch Arbeit und Para­dies neben­ein­an­der in die Google-Such­mas­ke ein, erschei­nen flugs jede Menge Ein­trä­ge zur „Arbeit im Para­dies“. Remote. Sehen wir am Display-Hori­zont bereits die Aura einer neo­pa­ra­die­si­schen Epoche her­auf­zie­hen? Gelan­gen wir auf den Spuren Epikurs Jahr­mil­lio­nen nach unserer Ver­trei­bung durch die Hin­ter­tür zurück ins Para­dies? Öffnet sich durch eine Finte der viel zitier­ten Wider­sprü­che der kapi­ta­lis­ti­schen Öko­no­mie eine Lücke ins Schla­raf­fen­land – mit all der Schmerz‑, Begier­de- und Furcht­lo­sig­keit, die uns zu unbän­di­ger Lebens­freu­de (selbst)ermächtigt?

Erlau­ben wir uns doch einmal, unge­hemmt opti­mis­tisch zu sein – als Start-up-Inves­ti­ti­on in eine zukünf­ti­ge Ära uni­ver­sel­ler Lebens­freu­de; besser ohne Exit. Also: Hun­dert­tau­sen­de Öster­rei­che­rin­nen und Öster­rei­cher werden in den kom­men­den Jahren in den Ruhe­stand treten, um eine fröh­lich wogende Masse zu bilden, die fortan nur mehr den sub­jek­tiv emp­fun­de­nen Freuden des Lebens frönt. Lebens­freu­de inklu­si­ve. Welt­rei­se, Biken in Istrien oder auf Mal­lor­ca, Alpe-Adria-Genuss­tour, Schre­ber­gar­ten, Stamm­beisl (mit Schnit­zel­bo­nus) etc. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Wei­te­ren Hun­dert­tau­sen­den wird es aller Vor­aus­sicht nach gelin­gen, ihren Arbeits­platz auf para­die­si­sche Pal­men­in­seln zu ver­le­gen. Stich­wor­te: Remote, New Work. Eben­falls breit grin­send. Schöner als jeder Bild­schirm­scho­ner.

All die anderen, die nach wie vor kör­per­lich an ihre Arbeits­stät­ten gebun­den sind: Sie erfah­ren durch die Ver­schie­bung der Achse ihrer Work-Life-Balance suk­zes­si­ve Erleich­te­rung. 168 Stunden hat die Woche, davon werden noch (bis zu) 40 gear­bei­tet. Da muss einem das Grinsen ja in den Mund­win­keln ein­frie­ren. Da ist mehr drin – also logi­scher­wei­se weniger Arbeit. Und jetzt, bevor skep­ti­sche Stimmen laut werden, der Clou – davon konnten weder Hegels Welt­geist noch Karl Marx’ Kapital etwas wissen: Die künst­li­che Intel­li­genz (KI) befreit uns Schritt für Schritt nicht nur vom post­pa­ra­die­si­schen Arbeits­zwang, sondern nach­hal­tig von der Arbeit über­haupt. Wir ahnen noch nicht einmal, welches Poten­zi­al die KI hat. Eine Glücks­ma­schi­ne. Die Rück­kehr ins Para­dies (auf Erden) ist so gut wie geritzt. Freuen Sie sich.

Bis Sie der Wir­kun­gen dieses dis­rup­ti­ven Umschwungs gewahr werden und sich ihre Mund­win­kel unwi­der­steh­lich nach oben bewegen, sei Ihnen der Erwerb eines Lebens­freu­de­rat­ge­bers emp­foh­len.

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